Gieẞen

22. März 1944 – 27. März 1945

Das Lager

Seit März 1944 existierte für ein Jahr lang im südöstlichen Teil der Heil- und Pflegeanstalt Gießen unter der Anschrift Licher Straße 106 ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Das Lager trug den Decknamen „Greta“. Die Anstalt war 1911 als psychiatrisches Krankenhaus für Menschen mit langwierigen und chronischen Krankheitsverläufen eröffnet worden. Zahlreiche Patienten und Patientinnen wurden ab 1934 Opfer von Zwangssterilisationen oder im Rahmen der Euthanasie-Verbrechen ermordet. Im Sommer 1940 übernahm die Waffen-SS einige Gebäude der Anstalt, in denen sie eine neurologisch-psychiatrische Beobachtungsstation (kurz „SS-Lazarett“) für psychisch kranke SS-Angehörige einrichtete. Später wurden der Station weitere SS-Sanitätseinheiten angegliedert. Die KZ-Häftlinge mussten für die „Sanitätsausbildungsabteilung der Waffen-SS“, so die offizielle Bezeichnung, Baumaßnahmen durchführen. Vermutlich waren sie im östlichen Teil des Anstaltsgeländes in einer Baracke untergebracht.

Landesheilanstalt Gießen, Luftbild über die gesamte Anlage, um 1950/60
Landesheilanstalt Gießen, Luftbild über die gesamte Anlage, um 1950/60. Im Vordergrund zu sehen ist das Versorgungszentrum des weitläufigen Anstaltsgeländes mit seinem hohen Schornstein. Die übrigen Anstaltsgebäude und vermutlich auch die Unterkunft der Häftlinge befanden sich auf dem angrenzenden bewaldeten Areal. ©LWV-Archiv, F 11 Nr. 151.

Die Häftlinge

Die ersten 50 Häftlinge brachte die SS am 22. März 1944 aus Buchenwald nach Gießen. Mitte Mai 1944 stieg die Belegung des Lagers mit 80 Männern auf ihren Höchststand. Kleinere Gruppen oder einzelne Häftlinge wurden in den folgenden Monaten zurück nach Buchenwald gebracht und durch andere Häftlinge ersetzt, so dass die Lagerbelegung relativ konstant blieb. Häftlinge aus der Sowjetunion, die zuvor als Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene nach Deutschland verschleppt worden waren, bildeten die größte Gruppe im Lager, gefolgt von Männern aus der Tschechoslowakei, Polen, Frankreich und einigen Deutschen. Fast alle von ihnen trugen den roten Winkel, der sie als politisch Verfolgte kategorisierte. Der Schneider Alois Kopecky aus Prag war mit 54 Jahren der älteste und der 18-jährige Fabrikarbeiter Sergej Kugaj aus der Region Kiew der jüngste Häftling. Die Funktionsposten besetzte die SS vermutlich mit Männern aus der kleinen Gruppe der deutschen Häftlinge. Als Lagerältester fungierte beispielsweise Kurt Oskar Dimler, seit Ende August 1939 politischer Häftling in Buchenwald.

Zwangsarbeit

Die Hauptaufgabe der von der Bauleitung der Waffen-SS eingesetzten Häftlinge war die Errichtung von Baracken und Gebäuden mit der entsprechenden Infrastruktur. Dazu zählten auch Wohnhäuser für höhere SS-Dienstgrade. Tätigkeitsberichte, wöchentlich an die Buchenwalder SS geschickt, geben Hinweise auf weitere Arbeiten und Arbeitsorte: „Feuerlöschteich“, „Steinbruch“, „Wege“, „Maste“, „Splittergr.[äben]“, „Zaum[n]“. Arbeiten mussten die Häftlinge von 6.30 Uhr bis 18.30 Uhr, in den Wintermonaten von 7.30 Uhr bis 17.00 Uhr. Eine Stunde war als Pause vorgesehen. Sonntags wurde die Arbeitszeit verkürzt. Rund ein Drittel der Häftlinge waren Zimmerer, Maurer, Elektriker oder Klempner und galten deshalb als Facharbeiter. Alle übrigen rechnete die SS als billigere Hilfsarbeiter ab.

Krankheit und Tod

Eine eigens für die Häftlinge eingerichtete Krankenstation scheint es in Gießen nicht gegeben zu haben. Falls eine medizinische Versorgung erfolgte, dann vermutlich in den Sanitätseinrichtungen der Waffen-SS. Belegt sind einige Fälle von sogenannter Schonung, d.h. die tageweise Freistellung von Häftlingen von der Arbeit wegen Krankheit. Die Rücküberstellungen von Häftlingen nach Buchenwald lassen sich vermutlich nicht mit Krankheit oder „Arbeitsunfähigkeit“ in Verbindung bringen. Ein Todesfall ist für das Außenlager Gießen dokumentiert: Der 44-jährige Pole Johann Falkus aus Kattowitz war gelernter Elektromonteur und bereits seit Oktober 1939 Häftling in Buchenwald. Der Vater von drei Kindern starb am 10. Januar 1945 im Außenlager Gießen – laut den Dokumenten der SS an den Folgen eines Unfalls.

Bewachung

Als Kommandoführer setzte die Buchenwalder SS einen SS-Unterscharführer namens Gerhard Heidelmann ein. Über ihn liegen bisher keine weiteren Informationen vor. Eine aus Buchenwald abgestellte Wachtruppe gab es nicht. Nachweislich übernahmen 14 Posten die Bewachung, wahrscheinlich zusammengestellt aus Sanitätseinheiten der Waffen-SS. Ermittlungen gegen den Leiter der Sanitätseinrichtungen der Waffen-SS, Theodor Klein, die auch den Tod von Johann Falkus zum Gegenstand hatten, wurden 1947 ergebnislos eingestellt.

Räumung

Am 27. März 1945, einen Tag vor der Einnahme Gießens durch die US-Armee, löste die SS das Außenlager auf. Vermutlich wurden 77 Häftlinge in Richtung Buchenwald gebracht, wobei die genaueren Umstände unklar sind. Nachweislich 22 von ihnen, darunter Kurt Oskar Dimler, trafen am 3. April 1945 in Buchenwald ein. Den übrigen Häftlingen gelang es, unterwegs der SS zu entkommen.

Spuren und Gedenken

Nach Kriegsende wurden in dem von Häftlingen erbauten Barackenlager zunächst Kriegsgefangene und später sogenannte Displaced Persons untergebracht und bis 1957 die Baracken weitgehend abgerissen. Andere Spuren der Zwangsarbeit, wie beispielsweise die ehemaligen SS-Wohnhäuser, sind heute noch vorhanden. Auf dem Gelände der heutigen Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, ein Unternehmen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, wurde am 9. November 1996 das Denkmal „Seht den Menschen“ eingeweiht: Die dortige Erinnerung an die Euthanasie-Opfer der Heil- und Pflegeanstalt Gießen schließt auch die KZ-Häftlinge mit ein. Ebenso widmet sich die Ausstellung „Vom Wert des Menschen“, die seit 1998 im Psychiatriemuseum (Haus 10) die Geschichte der Anstalt von 1911 bis 1945 behandelt, in einem Kapitel dem Außenlager. Seit 2017 fördert ein Verein die Gedenk- und Forschungsarbeit zur Ortsgeschichte.

Link zum heutigen Standort und zum Denkmal auf GoogleMaps

Kontakt:
Förderverein Psychiatriemuseum / Gedenkausstellung Gießen e.V.

Literatur:

Uta George, Herwig Groß, Michael Putzke, Irmtraut Sahmland, Christina Vanja (Hg.), Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung, Gießen 2003.