
Ryszard Kessler kam 1924 in Gdynia an der polnischen Ostseeküste zur Welt. Nach Beginn der deutschen Besetzung Polens wurde er im Oktober 1939 nach Kielce vertrieben. Weil er dort illegale Zeitungen für eine Widerstandsorganisation verteilte, verhaftete ihn die Gestapo im März 1941. Er durchlief die Konzentrationslager Auschwitz und Neuengamme, bevor er im Oktober über Buchenwald in das Außenlager „Laura“ kam. Ryszard Kessler überlebte und erlebte die Befreiung in Allach. Erst 1947 konnte er nach Polen zurückkehren, wo er eine Familie gründete. Nach seinem Studium arbeitete er bis zu seiner Pensionierung im Speditionsgewerbe. 1987 kehrte er zum ersten Mal nach „Laura“ zurück. Seine Erinnerungen wurden 1998, drei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht.
Aus den Erinnerungen von Ryszard Kessler
Das Lager
„Im Lager war ein großes einstöckiges Gebäude, das links am Zaun stand. Es war, wie alles andere, ganz mit Schieferplatten bedeckt. Rechts lag eine niedrige Steinhütte, daneben eine Reihe von Bäumen und ein kleines Haus, das sich als Lagerküche erwies. Hinter der Küche und vertikal zum Hauptgebäude war ein anderes Haus sichtbar – Block 2 –, die Lagerkanzlei, Krankenstube und der Bunker (Lagerarrest). Der Hof zwischen dem Hauptgebäude und der Küche, vom Lagertor bis zu diesem Block 2, diente als Appellplatz und war mit Kies bestreut. Im kleinen Wäldchen, das sich von der Steinhütte bis zur Küche erstreckte, lagen drei niedrige Schuppen – Waschräume, Latrine und Leichenkammer. Und das war alles, das ganze Lager ‚Laura‘. Links vom Block 2, doch schon hinter dem Zaun, war ein großes T-förmiges Haus sichtbar, die SS-Kaserne.
Ich wurde dem Block 1 zugeteilt, also in das Hauptgebäude. Man trat dort durch zwei große Eingänge hinein, die sich in den Giebelwänden befanden. In der Mitte, über die ganze Gebäudelänge, streckte sich ein langer, dunkler Raum, der als Speisesaal dienen sollte. Links und rechts waren die Schlafräume, die wir mit unseren dreistöckigen Pritschen dicht besetzten. Die Enge war ungeheuer. Mir wurde ein Platz unweit vom Fenster zuteil, was am Tage ein wenig Beleuchtung garantierte. Durch das Fernster konnte man den Appellplatz und die Küche sehen. Alles das war im Erdgeschoss. An beiden Enden des Mittelraumes gab es breite, hölzerne Treppen, die zum Stockwerk führten. Die Raumeinteilung war dort genau dieselbe wie unten. Doch die Räume waren viel niedriger, so konnten die Pritschen nur zweistöckig sein. Die Folge war eine bedeutend kleinere Belegung der oberen Etage, was viel bessere Lebensbedingungen brachte. Und noch einen Vorteil gab es: Oben war es viel wärmer als im Erdgeschoss, wo kalte Luft durch die immer geöffneten Eingänge hereinzog. […]
Auf dem Block 2 waren die Unterkünfte noch schlimmer, es waren die früheren Pferdeställe und Wagenschuppen. Der Fußboden war mit Steinplatten gepflastert, an Stelle einer Tür war ein großes Tor, das die kalte Luft von draußen unmittelbar in den großen Wohnraum hereinließ. Das Ganze schien schmutzig und düster, doch es herrschte dort eine viel bessere Atmosphäre als im Block 1, dank dem Blockältesten Lorenz und seinem Stubendienst Georg Clouda, einem tschechischen Rechtsanwalt, der auch als Pfleger in der Krankenstube diente.“
Die Arbeit in den Stollen
„Im Tunnel donnerte es gewaltig, stinkige Rauch- und Staubwolken erschwerten das Atmen, und schrilles Geschrei drang in die Ohren. Los, an die Arbeit, aber schnell! Wir traten in die Hölle. Düstere Stollen, schlüpfriger Boden, Kot, Enge, wir stolperten, Wasser tropfte überall aus dem tiefen Gewölbe, hohe Hallen, Menschenbeine in Häftlingskleidung, die aus Felsblöcken gespenstisch herausschauten, durchdringender Gestank von Karbid, Schwefel und Schießpulver. In den Hallen wehte eisige Kälte. Blendende Lichter einerseits, undurchdringliche Dunkelheit andererseits. Lieber Gott, wo waren wir hingeraten?
Im Stollen donnerte es wieder, doch anders. Das Donnern näherte sich schnell. Jetzt sah ich es genau, ein Zug, voll beladen mit Gestein. Der Stollen war eng, so dass die Wagen ihn in ihrer Breite voll ausfüllten, kein Platz zwischen den Waggons und den Stollenwänden! Verzweifelt suchten wir eine Nische, pressten uns an die Felswände, einige warfen sich zu Boden – die rasende Masse lief vorbei, ich fühlte ein Streifen über den Rücken. Ein Kamerad hatte sich schlecht versteckt, fand nicht genügend Platz und wurde zu Tode gequetscht. Viele andere erlitten schwere Verletzungen.
Den Rest teilte der Kapo in kleine Gruppen auf. Mich und meinen Kameraden Krzyzaniak führte er in einen Stollen, der vollgestopft mit Grubenwagen war. Vor einem mächtigen Schutthaufen hielt er an und befahl: ,Bis sechs Uhr acht Wagen vollladen!ʼ So nahmen wir, Maurer, schwere Gabeln in die Hände und begannen, diese Wagen zu beladen. Die Maurerkellen waren vergessen, man hatte uns zu Bergleuten gemacht.
Die Gabel war schwer, die Steine schwer aufzunehmen. Sie rutschten ab, fielen herunter, wollten nicht auf den Wagen. Tempo eins – Gabel in den Geröllhaufen, Tempo zwei – Gabel kräftig hineinstoßen, Tempo drei – Gabel in Wagenhöhe bringen, Tempo vier – Gabel wieder in das Gestein stoßen. Diese Arbeit war viel schwerer, als den Elbesand in Neuengamme auf die Loren zu laden. Die großen Steinbrocken mussten mit bloßen Händen auf die Wagen gebracht werden.“
Gewalt
„Oberscharführer Schmidt übertraf sich selbst. Er war überall, im Lager und in der Grube. Sein Erscheinen war schon von Weitem zu hören, man hörte wildes Geschrei, entsetzliche Schimpfwörter, stumpfe Schläge, dann wurde der Schmidt sichtbar, dick und mit rot angeschwollenem Gesicht. Und er schlug unermüdlich und ununterbrochen. Ihm in die Hände zu fallen bedeutete, schwer geschlagen, wenn nicht gar verletzt zu werden. Ein Oberhenker! Als der Schmidt verschwand, kam der Unterscharführer Banazzo zum Vorschein, mittelgroß, mager, ein wenig gebückt, schwarzhaarig und mit dunklem Teint. Er hatte den Spitznamen ,Italienerʼ und ,Blutwurstʼ, ,Italienerʼ wegen seines Aussehens und Namens, ,Blutwurstʼ, weil er uns immer folgenderweise beschimpfte: ,Ihr verfluchten Halunken, ich werde Blutwurst aus euch machen!ʼ Die Gesichter der von ihm geschlagenen Häftlinge erinnerten sehr oft nicht an eine Blutwurst, sondern an eine blutige Masse. ,Blutwurstʼ war ein allgemein gefürchteter Schrecken und eine Bedrohung, ein Henker mit Vorliebe und Leidenschaft. Dazu kamen noch die anderen Block- und Kommandoführer. Ein jeder wollte sich – wie schon gesagt wurde – beweisen. Doch keiner konnte sich mit diesen zwei Schindern vergleichen. Einen großen Anteil am Antreiben zur Arbeit hatten auch die Zivilaufseher und – selbstverständlich – die Kapos und Vorarbeiter. Alle wüteten: Das Werk sollte so schnell wie möglich fertig werden! Alles das machte die Arbeit in der Grube unerträglich.“
Filmvorführungen im Lager
„Am nächsten Abend hörten wir eine überraschende Mitteilung vom Lagerältesten Ali: ,Wer einen Spielfilm sehen will, raustreten!ʼ
Ich trat raus, über Hundert andere auch. Wir wurden gezählt und angewiesen, nach dem Abendbrot um sieben Uhr an derselben Stelle anzutreten und eine Mark mitzubringen. […]
Von diesem Sonnabend an wurden uns Spielfilme jede Woche gezeigt, den ganzen Sommer und Herbst über, insgesamt 28 Filme. […]
Für diese zwei Stunden zogen wir in eine ganz andere Welt, in ein Land von Träumen und Sehnsucht, vergaßen, dass wir nur Nummern, keine Menschen waren. Wochenlang summten wir die gehörten Melodien, entdeckten die Zauberwelt der Musik und träumten von schönen Weibern. Diese Filmvorstellungen waren wie ein belebendes Bad, Erholung und Kräftigung. Man konnte die Menschheit wiedergewinnen.
Die Wochenschauen konnte man nicht vergessen. Bestimmt waren sie wichtiger als die Spielfilme. Mit Verspätung, doch mit eigenen Augen, sah ich die Monte-Cassino-Kämpfe (Die grünen Teufel von Cassino), die Invasion (Landung der Alliierten in Frankreich), den ,siegreichen Rückzugʼ aus Russland, zerstörte Städte, unsere V2-Geschosse, die von den Schießständen gegen England abgefeuert wurden. Was für eine Regung und Sensation gab es, als wir diese Geschosse und Feuersäulen sahen. Diese Aufnahmen halfen uns zu verstehen, was und wozu unsere ,Tubenʼ waren, dass sie die Triebsätze von den V2-Raketen waren. Die Wochenschau brachte Hoffnung, dass der Krieg doch zu Ende gehen würde, dass er nicht mehr lange dauern konnte.“
Aus: Ryszard Kessler, Die Hölle im Schieferberg. Erinnerungen an „Laura“, Saalfeld 1998.