Weferlingen

23. August 1944 – 12. April 1945

Das Lager

Seit Frühjahr 1944 bereiteten die Niedersächsischen Motorenwerke (NIEMO), eine Tochter der Büssing NAG, Braunschweig, die Untertageverlagerung der Produktion von Flugzeugmotoren vor. Ausbauobjekte waren die stillgelegten Kalischächte „Gerhard“ und „Buchberg“ bei Walbeck und Grasberg, südlich von Weferlingen. Sie erhielten die Decknamen „Gazelle I“ und „Gazelle II“. Die Bauleitung „Gerhard“ lag beim OT-Einsatzstab Kyffhäuser, die Bauarbeiten vor Ort führte die westfälische Firma Dallmann aus. Um das ehrgeizige Projekt einer unterirdischen Fabrik zu beschleunigen, setzte die SS seit Spätsommer 1944 KZ-Häftlinge ein – 500 trafen Ende August ein. Sie wurden in der Nähe des Schachtes „Buchberg“ in Zelten untergebracht. Mitte Dezember zogen sie in ein Barackenlager am Buchberg um und marschierten fortan täglich rund einen Kilometer zu ihrem unterirdischen Arbeitsort. Vermutlich seit Februar 1945 mussten über 70 Häftlinge im nördlich gelegenen Schacht „Gerhard“, mehrere hundert Meter untertage, leben und arbeiten. Sie sahen über Wochen kein Tageslicht. Die SS führte das Lager Weferlingen unter den Tarnnamen „Gazelle“ oder „Gerhard“.

Schlafstollen mit Betten im Schacht „Gerhard“, wo Häftlinge vermutlich ab Februar 1945 untergebracht waren, April 1945 (nach der Befreiung). Foto: Gérard Raphaël Algoet
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Schlafstollen mit Betten im Schacht „Gerhard“, wo Häftlinge vermutlich ab Februar 1945 untergebracht waren, April 1945 (nach der Befreiung). Foto: Gérard Raphaël Algoet ©Gedenkstätte Buchenwald
Schlafstollen mit Betten im Schacht „Gerhard“, wo Häftlinge vermutlich ab Februar 1945 untergebracht waren, April 1945 (nach der Befreiung). Foto: Gérard Raphaël Algoet
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Schlafstollen mit Betten im Schacht „Gerhard“, wo Häftlinge vermutlich ab Februar 1945 untergebracht waren, April 1945 (nach der Befreiung). Foto: Gérard Raphaël Algoet ©Gedenkstätte Buchenwald

Die Häftlinge

Am 23. August 1944 brachte die SS 500 Häftlinge aus Buchenwald in das Außenlager „Gazelle“. Fast alle Männer kamen erst im Juli und August mit zwei Deportationszügen aus Internierungslagern im vormals unbesetzten Teil Frankreichs nach Buchenwald: französische Widerstandskämpfer, manche von ihnen seit Jahren in Gefängnissen und Lagern, daneben auch einzelne in Südfrankreich internierte Italiener, Spanier, Portugiesen, Algerier, Syrer und Iraner – der Jüngste 16 Jahre alt. Eine kleine Gruppe von neun deutschen Häftlingen, die als „Berufsverbrecher“ galten, setzte die SS für die innere Verwaltung des Außenlagers und als Kapos ein. Mehrfach schickte sie Kranke nach Buchenwald zurück, die größte Gruppe am 6. Februar 1945. Einen Tag später trafen 75 neue Häftlinge in Weferlingen ein, unter ihnen auch Polen, Italiener, Russen, Ukrainer, Serben, Franzosen und Deutsche. Der Jüngste in dieser Gruppe war 14 Jahre alt. Vieles weist darauf hin, dass sie direkt im Schacht „Gerhard“ untergebracht wurden. Insgesamt durchliefen bis April 1945 rund 575 Häftlinge das Lager.

„Die Mine wurde durch Blut und Schweiẞ wie in Dora in eine riesige unterirdische Kriegsfabrik verwandelt.“
André Emmanuel Chicaud
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die SS führte das Außenlager „Gazelle“ in der Statistik unter den Lagern für „Rüstungszwecke“. Alle Häftlinge des ersten Transports wurden als Hilfsarbeiter eingestuft und arbeiteten – ohne Wochenenden – in Tag- und Nachtschichten zwölf Stunden täglich untertage. Sie verrichteten körperliche Schwerstarbeit, bauten Stollen aus, betonierten den Untergrund oder legten Gleise. Die Arbeit im Kalistaub, bei schlechter Belüftung, ohne Arbeitsschutz und entsprechende Kleidung war hochgradig gesundheitsschädlich. Außerhalb der Stollen erfolgte der Einsatz in Kommandos beim Straßenbau, bei Erdarbeiten und bei der Verlegung von Kabeln.
Über die Zwangsarbeit der zweiten Gruppe, die seit Februar 1945 direkt im Schacht leben musste, ist wenig bekannt. In der Zusammensetzung fällt ein nennenswerter Anteil aus folgenden Berufsgruppen auf: Köche, Bäcker, Fleischer und Schuhmacher sowie Handwerker verschiedener Gewerke. Vermutlich waren sie im Umfeld der beginnenden Produktion der NIEMO und der Henschel-Werke tätig.

Krankheit und Tod

Für das Lager am Buchberg ist eine Krankenstation belegt. Im Februar 1945 lagen dort 15 Häftlinge auf Station und 67 wurden als Schonungskranke geführt. Nach Wochen schwerster Zwangsarbeit war damit jeder Fünfte des Kommandos krank, lebensbedrohlich geschwächt oder Opfer von Unfällen. Über hundert Männer schickte die SS nach Buchenwald zurück, weil sie als dauerhaft nicht arbeitsfähig galten. Vor Ort starben bis zur Befreiung mindestens 13 Häftlinge an Entkräftung, akuten Darmerkrankungen, Phlegmonen und Abszessen. Als Häftlingsarzt war der Franzose Dr. Joseph Robert tätig. Im Schacht „Gerhard“ gab es außerdem einen litauischen Vertragsarzt. Die Toten des Außenlagers ließ die SS im Krematorium Braunschweig einäschern und die Urnen danach auf einem Friedhof in Braunschweig beisetzen. Drei Häftlinge wurden zudem auf dem Friedhof in Walbeck beerdigt.

Bewachung

Als Kommandoführer des Außenlagers setzte die Buchenwalder SS zunächst einen SS-Oberscharführer namens Kliement ein. Er blieb bis Ende Februar 1945 vor Ort. Auf ihn folgte ein vermutlich von der Wehrmacht an die SS überstellter Hauptmann namens Schlaf. Über ihn und über Kliement liegen bisher keine weiteren Informationen vor. Als Schlafs Stellvertreter und Kommandant der Wachmannschaft fungierte ebenfalls seit März 1945 SS-Oberscharführer Peter Merker (geb. 1890). Zuvor war er Kommandoführer im Außenlager Weimar gewesen. Die Wachmannschaft in Weferlingen umfasste im November 1944 insgesamt 39 SS-Männer.
Peter Merker wurde im Dachauer Buchenwaldprozess 1947 wegen seiner Taten als Kommandoführer des Kommandos Gustloff Weimar zum Tode verurteilt. Es folgten eine Strafreduzierung auf 20 Jahre und die Entlassung aus der Haft Anfang der 1950er-Jahre. Ein späteres Ermittlungsverfahren zum Außenlager Weferlingen verlief ergebnislos.

Räumung

Bei Annäherung der amerikanischen Armee zog die SS ab, und das Lager wurde am 12. April 1945 von der 30th Infantry Division befreit. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch 421 Häftlinge im Lager am Buchberg. Das 150th Medical Battalion der US-Armee rettete die extrem geschwächten Überlebenden. Die Bürgermeister von Grasleben und Walbeck wurden zur Versorgung der Befreiten verpflichtet.

Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945
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Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945 ©United States Holocaust Memorial Museum
Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945
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Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945 ©United States Holocaust Memorial Museum
Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945
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Befreite Häftlinge im Lager am Buchberg, nach dem 12. April 1945 ©United States Holocaust Memorial Museum

Spuren und Gedenken

Die Baracken und der oberirdische Teil der Schachtanlagen „Buchberg“ und „Gerhard“ sind nicht mehr vorhanden; der Abriss erfolgte 1947/48. Vom Schacht „Gerhard“ existiert heute ein mit Wasser gefülltes Restloch, am Schacht „Buchberg“ befindet sich ein Verschlussbau. Auf dem Friedhof Walbeck, wo drei Häftlinge beerdigt wurden, gibt es einen Gedenkstein. Die evangelische Gemeinde von Walbeck richtete 2007 in den Kellerräumen der Dorfkirche St. Michael einen „Raum der Stille“ zum Gedenken an die Häftlinge des Außenlagers ein.

Link zum Standort des Friedhofes Walbeck auf GoogleMaps
Link zum Standort der Dorfkirche St. Michael auf GoogleMaps

Literatur:

Frank Baranowski, Weferlingen („Gazelle“), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 599-602.

Ders., Rüstungsproduktion der Mitte Deutschlands 1929–1945, Bad Langensalza 2013.


André Chicaud, 1953
André Chicaud, 1953 ©Direction Interdépartementale des Anciens Combattants de Clermont-Ferrand
„Die Mine wurde durch Blut und Schweiẞ wie in Dora in eine riesige unterirdische Kriegsfabrik verwandelt.“

André Emmanuel Chicaud

André Chicaud wurde am 26. März 1914 in Crozon-sur-Vauvre (Frankreich) in einer Bauernfamilie geboren. Mit 22 Jahren trat der gelernte Dreher in die Metallarbeitergewerkschaft ein, später auch in die Kommunistische Partei. Am Widerstand gegen die deutschen Besatzer war er in seiner Heimatregion führend beteiligt. 1941 verurteilte ihn ein Militärgericht in Clermont-Ferrand zu drei Jahren Gefängnis. Nach seiner Entlassung 1944 internierte ihn die französische Gendarmerie im Internierungslager Saint-Sulpice-la-Pointe. Nach der Übergabe an die deutschen Besatzer kam er im Juli 1944 nach Buchenwald und später bis zur Befreiung nach Weferlingen. Bis in die 1970er-Jahre war er als Lokalpolitiker aktiv. André Chicaud starb im Jahr 2000 mit 85 Jahren.



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