
Jean Lorge kam am 2. Juli 1925 in Poligny im französischen Département Jura als ältestes von neun Kindern zur Welt. Die Familie lebte in Saint-Claude, wo seine Eltern ein Geschäft führten. Bei einer Razzia verhaftete die Gestapo am Ostersonntag 1944 in Saint-Claude über 300 Männer zwischen 18 und 45 Jahren, unter ihnen den Studenten Jean Lorge. Mitte Mai 1944 wurden sie nach Buchenwald deportiert. Nach kurzer Zeit im Kleinen Lager von Buchenwald schickte die SS die Männer aus Saint-Claude in die Außenlager. Jean Lorge kam nach Wieda, später nach Mackenrode und Dora. Nach einem Todesmarsch erlebte er Ende April 1945 in Ravensbrück die Befreiung. Er kehrte in seine Heimat zurück, gründete eine Familie und arbeitete im Betrieb seines Schwiegervaters. Jean Lorge starb 2022 mit 97 Jahren in Saint-Claude.
Aus den Erinnerungen von Jean Lorge
Von Buchenwald nach Wieda
„Am Morgen des 6. Juni 1944, nach einem mehr als vierstündigen Appell, verlässt eine Gruppe von 200 bis 300 Häftlingen des Kleinen Lagers (darunter viele Franzosen) Buchenwald in Richtung Bahnhof, wo wir in Viehwaggons gepfercht werden, allerdings nur fünfzig Personen pro Waggon.
Wohin fahren wir?
Am frühen Nachmittag hält der Zug an einem kleinen Bahnhof namens Walkenried […]. Das Wetter ist gut und wir machen uns in einer Fünferkolonne auf den Weg, bewacht von bereits älteren und relativ gutmütigen Soldaten der Luftwaffe. Wir laufen auf einer asphaltierten Straße durch eine Landschaft, die sehr an das Jura erinnert. Das Tempo ist nicht zu hoch, und jeder hat Zeit, mit viel Nostalgie daran zu denken, dass es Saint-Claude sein könnte. [...]
Unser Marsch geht etwa acht Kilometer weiter und wir kommen in ein kleines Dorf namens Wieda. Wir kommen uns vor wie in Chassal oder Molignes [Anm: Orte im französischen Jura]. Am Ortseingang befindet sich ein kleines Lager, das aus einem einzigen, von Stacheldraht umgebenen landwirtschaftlichen Gebäude besteht [...].
Im Inneren des riesigen Gebäudes steht ein hoher Block mit Bettgestellen. Sie sehen aus wie Kaninchenkäfige. Aber jedes Bett hat eine Decke und wir richten uns darin ein: Ich befinde mich im dritten oder vierten Stock. Wir hatten noch das Glück, einige der Sachen, die wir in Compiègne erhalten hatten, bei uns zu haben, und jeder richtete sie in seiner kleinen Ecke ein.
Die Atmosphäre in diesem Lager scheint ruhig zu sein. Als wir ankommen, sind dort nur etwa 100 Russen, Polen und Deutsche. Das Lager muss neu errichtet worden sein und wir müssen die ersten Bewohner sein neben denen, die bereits dort sind.“
Auf den Baustellen der Helmetalbahn
„Am Tag nach unserer Ankunft stehen wir um drei Uhr morgens auf. Wir fahren aufs Land, um zu einer Baustelle für eine Bahntrasse zu gelangen. [...] Es ist Juni. Und das Wetter beginnt, angenehm zu werden. Zum Glück, denn wir arbeiten draußen auf dem Land. Rehe und Hasen tummeln sich um uns herum. Das könnte alles so schön ländlich sein, wenn die Regentage diese Stimmung nicht trüben würden: ungeschützt 12 Stunden am Stück (mittags 30 Minuten Pause), und wir bleiben die ganze Zeit über nass und haben kaum eine Möglichkeit, uns vor unserer Rückkehr ins Lager zu trocknen.
Unsere Arbeit bestand entweder aus Erdarbeiten, um das Gleisbett für die zukünftige Eisenbahnstrecke vorzubereiten, oder aus dem Verlegen der Schienen. Letztere Arbeit war anstrengend und gefährlich, da wir so viel Gewicht heben mussten und die Gefahr einer falschen Bewegung bestand: Es wurden viele Hände und Füße zerquetscht.
Gegen 19 Uhr kehrten wir ins Lager Wieda zurück und erhielten unsere Schüssel mit der immer noch dünnen Suppe. Aber wir hatten es relativ ruhig: Die Appelle waren sehr kurz und wir standen nicht unter dem ständigen Druck von SS-Leuten, die bereit waren, uns zu knüppeln.“
Begegnungen
„Die Bewohner von Wieda spazierten abends oder sonntags um das Lager herum und betrachteten uns ein wenig wie merkwürdige Tiere, aber ohne besondere Feindseligkeit. Die deutschen Häftlinge hatten sogar die Möglichkeit, abends für ein paar Stunden ins Dorf zu gehen.“
Von Wieda nach Mackenrode
„Weil wir für den Weg zwischen Wieda und unserem Arbeitsplatz viel Zeit verloren und morgens und abends einen Zug für unsere Hin- und Rückfahrten benötigten, beschlossen die Verantwortlichen, uns näher an die Baustelle der Eisenbahnlinie zu bringen.
Drei neue kleine Lager wurden in Mackenrode, Osterhagen und Nüxei errichtet, Dörfer, die sehr nahe an unseren Arbeitsstätten lagen. [...] Ich selbst wurde mit einigen Freunden aus Saint-Claude dem Lager in Mackenrode zugeteilt.“
Aus: Jean Lorge, J’étais devenu un numéro. Saint-Claude, 9 avril 1944, Bière 2009, S. 40 ff. (Übersetzung aus dem Französischen)