Judith Schneiderman

(1928-2018)

Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946
Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946 ©Familie Schneiderman

Judith Schneiderman kam als Judith Rosenberg am 22. August 1928 in Rachiw in der heutigen Ukraine (damals Ungarn) als eines von acht Kindern in einer jüdischen Familie zur Welt. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert, wo die SS ihre Eltern und jüngsten Geschwister ermordete. Mit drei Schwestern kam Judith zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen. Eine ihrer Schwestern starb beim Luftangriff im September 1944. Judith und ihre anderen Schwestern überlebten die Lager in Gelsenkirchen und Sömmerda und den Todesmarsch. Im DP-Lager in Landsberg am Lech lernte sie den Buchenwaldüberlebenden Pinek Schneiderman kennen. Sie heirateten, gingen 1947 in die USA und gründeten eine Familie. Mit 72 Jahren schrieb Judith Schneiderman ihre Erinnerung auf. Sie starb 2018.





„Ich weiẞ nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren. Alles, woran ich mich erinnere, ist die Ankunft in einer Stadt namens Gelsenkirchen, und auch das wusste ich nur, weil ich durch die Ritzen des Waggons gelugt und gesehen hatte, dass wir unter einem zusammengeschweiẞten Bogen hindurchfuhren, auf dem dieser Name stand.“

Aus den Erinnerungen von Judith Schneiderman

Von Auschwitz nach Gelsenkirchen
„Sie brachten uns zurück zu den Baracken und gaben uns den Befehl, uns auszuziehen. Wieder standen wir nackt in einer Reihe da. Erneut sortierte man uns aus. Ein unangenehmer, junger SS-Soldat teilte uns über sein Megaphon mit: ,500 der stärksten jungen Frauen werden ausgewählt und zur Arbeit geschickt.ʼ […] Zinka hatte Recht gehabt, solange wir für die Deutschen nützlich waren, würden sie uns am Leben lassen. Man brachte uns wieder zu den Viehwaggons, die diesmal sauberer und offener waren als die vorherigen, und es war ein wahrer Luxus, dass jedes Mädchen ein ganzes Brot bekam, auf dem sich etwas Margarine befand. Am Zug herrschte ein optimistisches und energiegeladenes Durcheinander. Wir waren bereit zu arbeiten.“

In Gelsenkirchen
„Ich weiß nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren. Alles, woran ich mich erinnere, ist die Ankunft in einer Stadt namens Gelsenkirchen, und auch das wusste ich nur, weil ich durch die Ritzen des Waggons gelugt und gesehen hatte, dass wir unter einem zusammengeschweißten Bogen hindurchfuhren, auf dem dieser Name stand. […] Hier wurden wir in großen Zelten mit festem Boden anstelle von Baracken untergebracht. Unsere Schlafstätten bestanden aus einfachen Holzbrettern, aber jede von uns bekam eine weiche, graue Decke, die unser wertvollster Besitz wurde. Wir hatten Dreifach- anstelle von Doppeletagenbetten, und nur zwei Mädchen mussten sich ein Bett teilen. Zu dem Zeitpunkt waren wir alle schon so dünn, dass wir problemlos zusammen reinpassten.
Die uns zugewiesene Arbeit bestand darin, Trümmer einer Munitionsfabrik, die von den Amerikanern zerbombt worden war, abzutragen und die Fabrik wiederaufzubauen. […] Infolge unserer Ernährung war es schwierig, die für die schwere Arbeit benötigte Aufmerksamkeit und Energie aufzubringen. Wir bekamen immer noch eine Scheibe Schwarzbrot und eine Schüssel voll wässriger Allerleisuppe am Abend, zugegebenermaßen hatte die Suppe jedoch etwas mehr Konsistenz. Oft gab man uns auch etwas Margarine und Marmelade. Wenn eine Freundin das Essen servierte, hatte man Glück. Dann wurde die Suppenkelle etwas tiefer in den Topf eingetaucht, und vielleicht war dann sogar etwas Gemüse darin.“

Ein Vorfall mit einem SS-Mann
„Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, aber ich hatte keine richtigen Schuhe in Gelsenkirchen und lief während der Arbeitszeit daher in Holzpantinen umher. Als eines Abends die Frauen in einer Reihe standen und auf ihr Abendessen warteten, rief mir aus einigen Schritten Entfernung ein SS-Soldat zu: ,Komm schon, na komm schon, du Kleine!ʼ Entgeistert blickte ich mich zu den Mädchen links und rechts von mir um und zeigte dann auf mich. Auf mich? ,Ja, du. Die Kleine da. Komm her!ʼ Ich schluckte schwer und gehorchte. Er zückte eine Kamera und richtete sie auf mich. ,Schau dich nur an mit diesen Holzschuhen!ʼ Er machte einige Aufnahmen und lächelte dabei wie ein Tourist. ,Wo hast du denn diese albernen Dinger her?ʼ Dann ging er mit mir zum Anfang der Schlange. Das Mädchen tauchte die Kelle ein, um meine Schüssel mit Suppe zu füllen, da gebot er ihr Einhalt. ,Tauch die Kelle richtig ein und gib ihr ein bisschen mehr Gemüseʼ. Das Mädchen schöpfte eine ordentliche Kelle voller Gemüse und Fleisch. Ich spürte den heißen, mit Einlage versehenen Eintopf in jeder Pore meines Körpers auf seinem Weg in den Magen, er wärmte mich und beruhigte meinen geschrumpften Magen. Wie willkürlich und absurd das doch alles war.“

Der Luftangriff
„Als die Fabrik fast wieder aufgebaut war, kamen die Amerikaner und zerbombten sie erneut. Wir waren in unseren Zelten, als wir das Heulen der tieffliegenden amerikanischen Kampfjets nur ein paar Hundert Meter entfernt hörten. Als die erste Bombe einschlug und der Boden zitterte, gerieten wir in Panik, rannten raus und kletterten über den rostigen Stacheldrahtzaun. Blutig zerkratzt flüchteten wir auf die Felder. Die Amerikaner begannen damit, uns aus ihren Flugzeugen zu bombardieren und zu beschießen. Ich befand mich mitten auf dem Feld, schaute auf der Suche nach meinen Schwestern verzweifelt um mich und sah nur völlig verängstigte Frauen, die über im Gras verstreute Gliedmaßen und blutüberströmte Körper stolperten. Mit einem dumpfen Aufprall landete vor mir der Kopf eines hübschen, schwarzhaarigen Mädchens. Ich stand da, unter Schock, allein. Ich hatte nichts abbekommen. […] Am nächsten Tag folgten mehr Bomben, aber diesmal verließ niemand die Zelte. Als die Explosionen um uns herum wieder alles erbeben ließen, warf ich mich auf Frieda und betete. Falls wir sterben würden, dann sollte es uns beide gleichzeitig treffen.
Nachdem sich an diesem Nachmittag alles wieder beruhigt hatte, fing Chaichu an, über Schmerzen in der Herzgegend zu klagen. Eine der Ärztinnen wurde in unser Zelt gerufen, wo sie Chaichu untersuchte, die, ohne es bemerkt zu haben, schwer verwundet worden war. Am darauf folgenden Tag wurde Chaichu mit einem Granatsplitter in der Brust ins Krankenhaus gebracht. Wir ließen sie widerstandslos gehen.
Nach den Angriffen brachten die Deutschen uns Überlebende in eine andere Munitionsfabrik nach Sömmerda, wo meine Aufgabe darin bestand, kleine Metallteile für Gewehre zu fertigen. Wir hatten schreckliche Angst, Chaichu zurückzulassen, aber nur einen Monat später kam unsere völlig genesene Schwester nach.“

Judith Schneiderman mit Jennifer Schneiderman, Ich sang um mein Leben. Erinnerungen an Rachov, Auschwitz und den Neubeginn in Amerika, Berlin 2013, S. 63 ff.