Gelsenkirchen (Frauen)

4. Juli 1944 – 15. September 1944

Das Lager

Im Stadtteil Horst am westlichen Rand von Gelsenkirchen errichtete die Gelsenberg Benzin AG 1936 ein Werk zur industriellen Herstellung von Flugbenzin. Als kriegswichtige Produktionsstätte wurde das Hydrierwerk im Juni 1944 von den Alliierten bombardiert und stark beschädigt. Um das Werk so schnell wie möglich wiederaufzubauen, brachte die SS auf Anforderung der Organisation Todt (OT) am 4. Juli 1944 Jüdinnen aus Auschwitz nach Gelsenkirchen. Als Unterkünfte für die Frauen dienten große Armeezelte, mit Stacheldraht umzäunt und von Wachtürmen umgeben, auf einem Feld östlich des Werks. Das Wachpersonal war zunächst im Hotel „Zur Post“ im Stadtteil Buer, später in Steinbaracken auf dem Gelände des Hydrierwerkes untergebracht. Das Konzentrationslager Buchenwald verwaltete das Frauenaußenlager in Gelsenkirchen von Beginn an – zunächst inoffiziell und seit Anfang September 1944 offiziell.

Werksanlagen der Gelsenberg Benzin AG vor der Zerstörung, um 1942
Werksanlagen der Gelsenberg Benzin AG vor der Zerstörung, um 1942 ©Stadtarchiv Gelsenkirchen, StA GE Na 71_5F2_1

Die Häftlinge

Am 4. Juli 1944 brachte die SS 2.000 Jüdinnen aus Auschwitz-Birkenau nach Gelsenkirchen. Die Frauen stammten aus Ungarn und den damals zu Ungarn gehörenden angrenzenden Regionen, insbesondere aus der Umgebung von Sighet im heutigen Rumänien. Aus ihrer Heimat wurden die Frauen und Mädchen mit ihren Familien im Spätfrühling/Frühsommer 1944 nach Auschwitz deportiert. Weil sie als arbeitsfähig galten, entgingen sie der sofortigen Ermordung in den Gaskammern. Die meisten von ihnen waren zwischen 20 und 25 Jahren alt: Maria Stauber aus Máramarossziget mit 14 Jahren eine der Jüngsten, Klara Breuer aus Zalaegerszeg mit 53 Jahren eine der Ältesten. Unter den Frauen befanden sich viele Geschwister und Mütter mit ihren Kindern. Die Belegung des Lagers in Gelsenkirchen blieb die ersten Wochen relativ stabil. Am 24. August 1944 schickte die SS 520 Frauen aus Gelsenkirchen in ein neues Frauenaußenlager bei der Krupp AG in Essen.

„Ich weiẞ nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren. Alles, woran ich mich erinnere, ist die Ankunft in einer Stadt namens Gelsenkirchen, und auch das wusste ich nur, weil ich durch die Ritzen des Waggons gelugt und gesehen hatte, dass wir unter einem zusammengeschweiẞten Bogen hindurchfuhren, auf dem dieser Name stand.“
Judith Schneiderman
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Zwangsarbeit

Wie von der Gelsenberg Benzin AG angefordert, mussten die meisten Frauen auf dem Betriebsgelände Trümmer beseitigen. Das Material für den Wiederaufbau wurde mit Schiffen über den Rhein-Herne-Kanal angeliefert. Das Be- und Entladen der Schiffe gehörte ebenfalls zu den Arbeiten der Frauen. Für die bereits durch die Zeit in Auschwitz geschwächten Frauen bedeutete die körperliche Schwerstarbeit zusätzliche Qualen. Alle Frauen galten als Hilfsarbeiterinnen, für die das Werk eine Gebühr von vier Reichsmark pro Einsatztag und Person an die SS zahlte. Im Juli 1944 wurde – auch sonntags – von 6 bis 18 Uhr mit einer Stunde Pause gearbeitet. Die Arbeitszeiten für August und September 1944 sind nicht dokumentiert.

Krankheit und Tod

Über die medizinische Versorgung vor Ort ist wenig überliefert. Berichten zufolge gab es im Lager eine Krankenstation, in der sich zwei Häftlingsärztinnen um die Kranken kümmerten. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihnen um die Medizinerinnen Dr. Elisabeth Schenk und Dr. Blanka Auspitz. Acht schwangere Frauen schickte die SS aus Gelsenkirchen zurück nach Auschwitz, wo sie sie vermutlich ermorden ließ. Mehr als 140 Frauen verloren in Gelsenkirchen ihr Leben. Die ersten Toten waren die 24-jährige Lilly Weisz und die 18-jährige Fanny Neumann. Beide starben im August 1944 den SS-Dokumenten nach an Typhus. Die übrigen Frauen kamen bei einem Luftangriff auf das Gelände der Gelsenberg Benzin AG am 11. September 1944 ums Leben. Ihre Leichen wurden verbrannt und in drei Massengräbern auf dem Werksgelände verscharrt. 94 schwer verletzte Frauen brachte die SS zur Behandlung in Krankenhäuser in Gelsenkirchen, Bottrop und Gladbeck. Einige von ihnen starben in den Tagen und Wochen nach dem Luftangriff. Für die im Krankenhaus in Bottrop Verstorbenen ist ein Begräbnis auf dem örtlichen Friedhof belegt.

Bewachung

Aufsichtsaufgaben innerhalb des Lagers übernahmen SS-Aufseherinnen, die vorher für den Dienst im Außenlager angeworben und in einem Kurzlehrgang im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück auf ihren Einsatz vorbereitet wurden. Zur Bewachung des äußeren Lagerbereiches waren männliche Wachmannschaften (Angehörige der SS, der Organisation Todt sowie Landesschützen) eingesetzt. Anfang August 1944 bestand das Wachpersonal vor Ort aus vier Aufseherinnen und 94 Posten. Die Buchenwalder Lagerleitung übertrug dem SS-Obersturmführer Eugen Dietrich (1889-1966) das Kommando. Im Ersten Weltkrieg Soldat und Offizier, im Zweiten Weltkrieg als Reservist reaktiviert, gehörte er seit 1942 zur Buchenwalder SS. Zuvor kommandierte er bereits das Außenlager in Mühlhausen. Mit einem Teil der Gelsenkirchener Wachmannschaft wechselte er später in das Frauenaußenlager Sömmerda. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ihn führten in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik zu keinem Ergebnis.

Auflösung

Am 15. September 1944, wenige Tage nach der Bombardierung, ordnete die Lagerleitung von Buchenwald die Auflösung des Gelsenkirchener Lagers an. 1.216 Frauen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch vor Ort. Sie wurden in das neu eingerichtete Frauenaußenlager im thüringischen Sömmerda geschickt, wo sie für die Rheinmetall-Borsig AG Waffen fertigen mussten. Nach Sömmerda gingen auch der Lagerführer Dietrich und ein Teil der Wachmannschaft – der Rest der Posten kam im neuen Buchenwalder Außenlager in Witten-Annen zum Einsatz.
Die verletzten Frauen blieben zunächst in den Krankenhäusern. Die meisten von ihnen brachte die SS zwischen Oktober 1944 und Mitte Januar 1945, sobald sie einigermaßen genesen waren, in insgesamt fünf Transporten nach Sömmerda. Von den verbliebenen Verwundeten gelang einer Frau die Flucht, andere erlagen ihren Verletzungen. Eine kleine Gruppe von Frauen konnte, unter anderem mit Hilfe des Chefarztes Dr. Rudolf Bertram, bis Kriegsende im Rotthauser Marienhospital bleiben.

Spuren und Gedenken

Das Werk Gelsenberg wurde nach dem Krieg zu einer Erdölraffinerie ausgebaut. Nach mehreren Besitzerwechseln gehört es heute dem Mineralölkonzern BP. Seit Juli 1948 erinnerte ein Gedenkstein in der Nähe des ehemaligen Lagers an die bei dem Bombenangriff getöteten Häftlingsfrauen. Wegen der Erweiterung des Gelsenberg-Werkes musste der Gedenkstein einige Jahre später auf den Friedhof Horst-Süd verlegt werden. Seit 2018 gibt es in der Nähe des Gedenksteines eine Skulptur mit erläuterndem Text und einer Namensliste der Opfer, die Schüler des Hans-Schwier-Berufskollegs Gelsenkirchen erarbeiteten.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort der Gedenkzeichen auf GoogleMaps

Kontakt:
Institut für Stadtgeschichte
Munscheidstraße 14 45886 Gelsenkirchen
isg@gelsenkirchen.de

Skulptur der Schüler des Hans-Schwier-Berufskollegs, die seit 2018 auf dem Friedhof Horst-Süd an die bei dem Bombenangriff im September 1944 getöteten Häftlingsfrauen erinnert.
Skulptur der Schüler des Hans-Schwier-Berufskollegs, die seit 2018 auf dem Friedhof Horst-Süd an die bei dem Bombenangriff im September 1944 getöteten Häftlingsfrauen erinnert. ©Stadtarchiv Gelsenkirchen

Literatur:

Stefan Goch, Gelsenkirchen-Horst, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 445-448.

Heike Herholz u. Sabine Wiebringhaus, KZ-Außenlager Buchenwald in Gelsenkirchen-Horst. Eine Dokumentation, in: Verein für Orts- und Heimatkunde Gelsenkirchen-Buer (Hg.), Beiträge zur Stadtgeschichte. Band 9, 1983, S. 121-142.

Marlies Mrotzek, Das KZ-Außenlager der Gelsenberg Benzin AG, Fernwald 2002.


Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946
Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946 ©Familie Schneiderman
„Ich weiẞ nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren. Alles, woran ich mich erinnere, ist die Ankunft in einer Stadt namens Gelsenkirchen, und auch das wusste ich nur, weil ich durch die Ritzen des Waggons gelugt und gesehen hatte, dass wir unter einem zusammengeschweiẞten Bogen hindurchfuhren, auf dem dieser Name stand.“

Judith Schneiderman

Judith Schneiderman kam als Judith Rosenberg am 22. August 1928 in Rachiw in der heutigen Ukraine (damals Ungarn) als eines von acht Kindern in einer jüdischen Familie zur Welt. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert, wo die SS ihre Eltern und jüngsten Geschwister ermordete. Mit drei Schwestern kam Judith zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen. Eine ihrer Schwestern starb beim Luftangriff im September 1944. Judith und ihre anderen Schwestern überlebten die Lager in Gelsenkirchen und Sömmerda und den Todesmarsch. Im DP-Lager in Landsberg am Lech lernte sie den Buchenwaldüberlebenden Pinek Schneiderman kennen. Sie heirateten, gingen 1947 in die USA und gründeten eine Familie. Mit 72 Jahren schrieb Judith Schneiderman ihre Erinnerung auf. Sie starb 2018.



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