Essen (Humboldtstraẞe) (Frauen)

24. August 1944 – 17. März 1945

Das Lager

Die Friedrich Krupp AG ließ 1943 in der Humboldtstraße in Essen-Fulerum, westlich des Stadtzentrums, ein Barackenlager errichten. Es lag auf freiem Feld und wurde zunächst für französische Zivilarbeiter, Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion und italienische Militärinternierte genutzt. Im geräumten westlichen Teil des Lagers brachte die Krupp AG Ende August 1944 über 500 Jüdinnen unter. Ein Stacheldraht trennte das neue KZ-Außenlager vom übrigen Gelände, auf dem weiter sowjetische Zwangsarbeiterinnen lebten. Vier Holzbaracken mit zweistöckigen Bettgestellen dienten als Unterkunft. Hinzu kam eine Küchenbaracke mit einem Essraum. Die Wachmannschaft nutzte eine Baracke außerhalb des Zauns. Ein Luftangriff zerstörte Ende Oktober alle vier Schlafbaracken, worauf der Speisesaal der Küche zur Unterkunft umfunktioniert wurde. Waschgelegenheiten gab es in den Ruinen des Lagers nun keine mehr. Nachdem auch die Küchenbaracke zerstört worden war, schliefen die Frauen seit Mitte Dezember im Keller einer abgebrannten Baracke, zum Teil auf dem nackten Betonboden. Die Krupp AG lieferte lediglich etwas Stroh.

Die Häftlinge

Am 20. August 1944 reisten Vertreter der Krupp AG nach Gelsenkirchen in das dortige Frauenaußenlager bei der Gelsenberg Benzin AG. Dort suchten sie 520 jüdische Mädchen und Frauen für den Einsatz in der Gussstahlfabrik in Essen aus. Ursprünglich hatte die Firmenleitung bei der SS 2.000 jüdische Männer angefordert. Diese waren jedoch nicht verfügbar. Für die Arbeit in der Fabrik galten Frauen als ungeeignet. Dennoch stimmte Krupp ihrem Einsatz zu. Per Straßenbahn brachte die SS die Jüdinnen am 25. August 1944 nach Essen. Die meisten von ihnen waren zwischen 20 und 30 Jahre alt – die Jüngste erst 13. Die Mädchen und Frauen stammten alle aus Ungarn oder angrenzenden Ländern, die seit 1940 zu Ungarn gehörten. Im Frühjahr 1944 waren sie mit ihren Familien nach Auschwitz deportiert worden. Weil sie als arbeitsfähig galten, hatten sie die Selektionen dort überlebt. Zur Zwangsarbeit bei der Gelsenberg Benzin AG waren sie Anfang Juli nach Gelsenkirchen gebracht worden. Zwei weitere Frauen ließ die SS aus Auschwitz nach Essen bringen. Insgesamt durchliefen somit 522 Frauen das „SS-Kommando Krupp Essen“, so die offizielle Bezeichnung des Lagers, das als „jüdisches Außenkommando“ galt.

Vom Lagerarzt des Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau, Josef Mengele, unterzeichnetes Schreiben an den dortigen Schutzhaftlagerführer, 11. September 1944
Vom Lagerarzt des Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau, Josef Mengele, unterzeichnetes Schreiben an den dortigen Schutzhaftlagerführer, 11. September 1944. Für die medizinische Versorgung überstellte die SS eine Häftlingsärztin und eine Krankenpflegerin aus Birkenau nach Essen. ©Arolsen Archives
„Später erfuhren wir, dass die Firma Krupp Arbeitskräfte angefordert hatte.“
Rachel Grünebaum
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Frauen mussten im Gussstahlwerk der Krupp AG in der Helenenstraße im Norden der Stadt arbeiten. Vom Lager in der Humboldtstraße war der Arbeitsort über sechs Kilometer entfernt. Zunächst brachte die SS die Frauen täglich mit der Straßenbahn zum Werk. Nach deren Zerstörung mussten die Häftlinge die Strecke ab Ende Oktober 1944 vor und nach der Schicht zu Fuß bewältigen. Der Großteil der Frauen war im Walzwerk II eingesetzt, weitere arbeiteten in der Elektroden-Abteilung des Werks. In der Regel gab es zwölfstündige Tag- und Nachtschichten. Die Tätigkeiten im Walzwerk waren körperliche Schwerstarbeit: Unter der Aufsicht deutscher ziviler Vorarbeiter waren die Frauen an Hochöfen eingesetzt, mussten Schweißarbeiten oder Hilfstätigkeiten verrichten. Arbeitsfreie Sonntage gab es nur selten. Alle Frauen galten als Hilfsarbeiterinnen, für die die Krupp AG pro Arbeitstag jeweils vier Reichsmark an die SS zahlte. Nach Luftangriffen mussten die Frauen zudem Trümmer räumen, Bombentrichter verfüllen oder Waggons entladen; Schwerstarbeiten, denen die geschwächten Frauen kaum gewachsen waren.

Krankheit und Tod

Ob es in dem wiederholt zerstörten Lager eine Krankenstation gab, ist nicht bekannt. Für die Versorgung der Kranken ließ die SS Mitte September 1944 zwei Häftlinge aus dem Frauenlager Auschwitz-Birkenau nach Essen bringen: die Ärztin Anita Martinet, eine französische Jüdin aus Paris, und die 22-jährige Krankenpflegerin Ewa Biro aus Budapest. Beaufsichtigt wurden sie von einem SS-Sanitäter namens Noltenmeyer. Im November waren durchschnittlich 30 bis 40 Frauen wegen Krankheit nicht einsatzfähig. Bis zur Räumung des Lagers sind sechs Todesfälle dokumentiert. Die erst 15-jährige Zsenni Mendolovits starb infolge eines Luftangriffs, die 44-jährige Erzsebet Waja an den Folgen von Erfrierungen an den Füßen. Für die übrigen Frauen wurden Blutvergiftungen, Tuberkulose oder allgemeine Körperschwäche als Todesursachen angegeben. Anfangs ließ die SS die Toten im Krematorium in Essen einäschern. Nach der Zerstörung des Krematoriums wurden die Leichname ab Anfang 1945 auf dem städtischen Südwestfriedhof erdbestattet. Belegt ist zudem eine Bestattung auf dem Terrassenfriedhof in Essen-Schönebeck.

Bewachung

Die Wachmannschaft in der Humboldtstraße umfasste Ende November 1944 insgesamt 18 SS-Männer und 34 SS-Aufseherinnen. Vor der Einrichtung des Lagers hatte sich die Krupp AG dazu verpflichtet, mehrere Dutzend Frauen aus der Belegschaft von der SS zu Aufseherinnen ausbilden zu lassen. Nach einem Kurzlehrgang im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück übernahmen sie Aufsichtsfunktionen in den Frauenaußenlagern. SS-Oberscharführer Albert Rieck (1914-1963) kommandierte die Wachmannschaft. Unter den Häftlingen galt er als äußerst gewalttätig. Als Oberaufseherin fungierte die 32-jährige Emma Theis(s)en (1912-1959). Ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden wurde 1973 wegen des Todes der Beschuldigten eingestellt. Zwölf Manager der Krupp AG um den Firmeninhaber Alfried Krupp von Bohlen und Halbach mussten sich 1947 vor einem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg verantworten, unter anderem wegen der Ausbeutung der jüdischen Zwangsarbeiterinnen. Elf der Angeklagten wurden zu Gefängnisstrafen von bis zu zwölf Jahren verurteilt.

Räumung

Am 17. März 1945 räumte die SS das Lager an der Humboldtstraße. Einige Tage zuvor konnten sechs Frauen in den Wirren eines Luftangriffs aus dem Lager fliehen. Mit der Hilfe von Zivilisten, unter anderem zweier Arbeiter aus dem Krupp-Werk, gelang es ihnen, sich bis zur Ankunft der amerikanischen Truppen über vier Wochen lang zu verstecken. Die im Lager verbliebenen über 500 Frauen mussten zu Fuß durch das zerstörte Essen bis nach Bochum marschieren. Dort bestiegen sie einen bereitstehenden Zug, in dem sich bereits die männlichen KZ-Häftlinge aus den geräumten Bochumer Außenlagern (SS-Baubrigade III, Bochumer Verein, Eisen- und Hüttenwerke AG) und dem Männeraußenlager in Essen befanden. Nach einer mehrtägigen Fahrt erreichte der Zug Buchenwald. Die Männer aus Bochum blieben dort, während der Zug mit den Frauen weiter in das Konzentrationslager Bergen-Belsen fuhr. 506 Frauen trafen am 25. März 1945 in Bergen-Belsen ein.

Spuren und Gedenken

Der Krupp-Konzern ließ nach dem Krieg auf dem ehemaligen Lagergelände an der Humboldtstraße eine Wohnsiedlung für Beschäftigte des Unternehmens bauen. Spuren des Lagers sind heute keine mehr vorhanden. An der Humboldtstraße/Ecke Regenbogenweg informiert seit 1989 eine Hinweistafel über die Existenz des KZ-Außenlagers. Sie wurde von der Stadt Essen errichtet. An der Markscheide 50, der Adresse, wo einige der geflohenen Jüdinnen untergebracht wurden, erinnert eine Informationstafel an die Rettung der sechs Frauen und ihrer Helfer und Helferinnen.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Literatur:

Ulrich Herbert, Von Auschwitz nach Essen. Die Geschichte des KZ-Außenlagers Humboldtstraße, in: Dachauer Hefte, Heft 2 (1986), S. 13-34.

Ernst Schmidt, Lichter in der Finsternis. Widerstand und Verfolgung in Essen 1933-1945, Band 2, Essen 1988.

Michael Zimmermann, Essen (Humboldtstraße), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: München 2006, S. 436-439.


Rachel Grünebaum als Soldatin in Haifa, 1948
Rachel Grünebaum als Soldatin in Haifa, 1948 ©Gedenkstätte Buchenwald
„Später erfuhren wir, dass die Firma Krupp Arbeitskräfte angefordert hatte.“

Rachel Grünebaum

Rachel Grünebaum wurde am 9. Dezember 1923 als Erzi Schnitzler im rumänischen Sighet, seit 1940 zu Ungarn gehörend, als jüngstes von acht Kindern in eine jüdische Familie geboren. Ihre Eltern betrieben ein kleines Restaurant. Im Mai 1944 deportierten die deutschen Besatzer Rachel, ihre Mutter sowie zwei ihrer Schwestern mit ihren Familien nach Auschwitz. Die 20-Jährige überlebte als einzige. Zur Zwangsarbeit schickte die SS sie ins Ruhrgebiet. Bei der Befreiung in Bergen-Belsen wog sie nur noch 21 Kilogramm. Sie kehrte nach Rumänien zurück und wanderte später nach Israel aus, wo sie Alfred Grünebaum heiratete. Ab 1953 lebte die Familie in Deutschland. Nach dem Tode ihres Mannes 1999 ging Rachel zunächst zurück nach Israel, später lebte sie wieder in Deutschland. Sie starb 2010 in Nümbrecht bei Köln.



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