Sömmerda (Frauen)

19. September 1944 – 4. April 1945

Das Lager

Die Rheinmetall-Borsig AG, einer der führenden Rüstungskonzerne, betrieb im thüringischen Sömmerda eines seiner Werke. In den Kriegsjahren produzierte das Werk neben Schreib- und Rechenmaschinen vor allem Rüstungsgüter, wie Zünder, Maschinengewehre und Munition. In der zweiten Kriegshälfte bildeten Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus West- und Osteuropa den Großteil der über 10.000 Beschäftigten. Im Sommer 1944 forderte die Werksleitung zudem KZ-Häftlinge von der SS an. Die Mitte September eintreffenden weiblichen Häftlinge wurden in einem Barackenlager am südlichen Stadtrand, in der heutigen Thomas-Müntzer-Straße untergebracht. Ursprünglich war es für Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion errichtet worden. Stacheldraht und sechs hölzerne Wachtürme sicherten den Lagerteil der KZ-Häftlinge. Als Unterkünfte dienten sechs umgebaute Pferdestallbaracken, aufgeteilt in Schlaf- und Gemeinschaftsräume. Schlafen mussten die Frauen in dreistöckigen Holzgestellen. Die Unterkunft der Männer und Frauen der Wachmannschaft befand sich in der angrenzenden Wohnsiedlung.

Die Häftlinge

Die SS brachte am 19. September 1944 eine Gruppe von 1.216 weiblichen Häftlingen nach Sömmerda – Jüdinnen aus Ungarn und den damals zu Ungarn gehörenden angrenzenden Regionen, insbesondere aus der Umgebung von Sighet im heutigen Rumänien. Die im Spätfrühling/Frühsommer 1944 mit ihren Familien aus ihrer Heimat nach Auschwitz-Birkenau deportierten Frauen und Mädchen entgingen der sofortigen Ermordung in den Gaskammern, da sie als arbeitsfähig galten. Die meisten von ihnen waren zwischen 20 und 25 Jahren alt. Seit Juli 1944 hatten sie bereits im Außenlager in Gelsenkirchen arbeiten müssen. Nach der Zerstörung des dortigen Betriebes durch einen Bombenangriff schickte die SS diejenigen, die den Angriff überlebten, nach Sömmerda. Weitere beim Bombenangriff Verletzte wurden später aus Gelsenkirchen überstellt. Mitte Januar 1945 befanden sich 2.294 weibliche Häftlinge vor Ort. Insgesamt durchliefen über 1.300 Frauen das Außenlager. Die jüngste von ihnen war erst 13 Jahre alt.

„Wir bewegten uns wie blinde Mäuse und gehorchten jeglichen Befehlen. Wochenlang gingen wir in eine Richtung, um dann spontan die Richtung zu wechseln.“
Judith Schneiderman
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Zwangsarbeit

Die Frauen arbeiteten im Rheinmetall-Werk, das sich über zwei Kilometer entfernt vom Barackenlager befand. Auf ihrem täglichen Weg zwischen dem Lager und der Rüstungsfabrik passierten sie die Wohnsiedlung unmittelbar neben dem Lager. Die Frauen waren überwiegend in zwei Abteilungen des Werks eingesetzt: in der Zünderproduktion und im sogenannten Laborierwerk. In der Zünderproduktion wurden Zünder für Geschosse hergestellt. Die Frauen mussten Bohr- und Fräsmaschinen bedienen. Bei der extrem gesundheitsschädlichen Arbeit im Laborierwerk befüllten die Frauen die Geschosse mit hochexplosiven und giftigen Sprengstoffen. Schutzkleidung erhielten sie nicht. Zivile Werksangestellte und Meister überwachten die Arbeit der Häftlinge und leiteten sie an. Gearbeitet wurde – wie in der Rüstungsproduktion üblich – in 12-stündigen Tag- und Nachtschichten. Die Sonntage galten als arbeitsfrei. Die SS drangsalierte die Frauen an diesen Tagen jedoch oft mit stundenlangen Zählappellen und Arbeiten im Lager.

Krankheit und Tod

Innerhalb des Barackenlagers gab es eine Krankenstation mit zwei Häftlingsärztinnen (Dr. Erzsébet Schenk und Dr. Blanka Auspitz) und vier Pflegerinnen. Sie verfügten kaum über Medikamente und Hilfsmittel. Der SS-Sanitäter Dreßen beaufsichtigte sie. Mitte November 1944 waren bei einer Häftlingsbelegung von über 1.200 Frauen rund 80 in stationärer Behandlung, 44 hatte die SS als „Schonungskranke“ vorübergehend von der Zwangsarbeit freigestellt. In wenigstens zwei Fällen gab es eine Verlegung in das Städtische Krankenhaus Sömmerda, wo sich besondere Baracken für Zwangsarbeiterinnen befanden. Neun Frauen kamen in Sömmerda ums Leben. Die Ursachen ihres Todes sind symptomatisch für die Krankheiten, an denen die Frauen litten: Schwäche infolge von Unterernährung, Lungenentzündung, Magen-Darm-Entzündungen, Tuberkulose, Abszesse und Phlegmone. Mindestens vier der toten Frauen ließ die SS in einem nahegelegenen Krematorium, vermutlich in Erfurt, verbrennen. Drei Frauen wurden in Sömmerda erdbestattet.

Bewachung

Mit den Häftlingen wechselten auch die SS-Männer aus dem aufgelösten Außenlager in Gelsenkirchen nach Sömmerda. Ihr Kommandoführer SS-Obersturmführer Eugen Dietrich (1889-1966) war im Ersten Weltkrieg Soldat und Offizier gewesen. Im Krieg als Reservist reaktiviert, gehörte er seit 1942 zur Buchenwalder SS. Vor Gelsenkirchen hatte er bereits als Kommandoführer im Außenlager Mühlhausen fungiert. Ende 1944 umfasste die ihm unterstehende Wachmannschaft 16 SS-Männer und 21 SS-Aufseherinnen. Die Aufseherinnen stammten aus der Belegschaft des Rheinmetall-Werks in Sömmerda. Eigens für den KZ-Dienst angeworben, bewachten sie nach einem Lehrgang im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück die Häftlinge im Lager und bei der Arbeit. Eine von ihnen, Anna Becker, verurteilte ein sowjetisches Militärtribunal in Weimar 1946 wegen der Misshandlung von KZ-Häftlingen zu zehn Jahren Haft. Zuvor war sie bereits im sowjetischen Speziallager Nr. 2 in Buchenwald inhaftiert gewesen. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Eugen Dietrich führten in den 1960er-Jahren zu keinem Ergebnis.

Räumung

Am 4. April 1945 räumte die SS das Lager. Die Kranken verlegte sie mit der Bahn in das Frauenaußenlager Altenburg. Alle übrigen mussten zu Fuß in Richtung Osten gehen. Nach einer Woche und fast hundert Kilometern erreichten sie Zipsendorf, einen Nachbarort von Meuselwitz (Thüringen), wo die SS den Marsch teilte. Eine Hälfte der Marschgruppe lief weiter bis in das Frauenaußenlager Altenburg. Nach einem Tag Pause dort marschierten sie nach Südosten. Viele von ihnen flohen am 13. April 1945 zu den anrückenden amerikanischen Verbänden und wurden bei Reinholdshain (Glauchau) befreit. Die andere Marschgruppe blieb kurz im Frauenaußenlager Meuselwitz. Von dort brachte die SS sie zunächst per Bahn bis Chemnitz und trieb sie dann zu Fuß noch fast vier Wochen weiter in südöstlicher Richtung. Erst am 9. Mai 1945 wurden sie auf tschechischem Gebiet von Truppen der Roten Armee befreit. Zeuginnen berichten, dass die Märsche der Frauen aus Sömmerda zahlreiche Opfer forderten.

Spuren und Gedenken

Das Barackenlager wurde nach dem Krieg abgebaut und das Lagerareal überbaut. Heute befindet sich dort eine Wohnsiedlung. Am ehemaligen Lagerstandort erinnert nichts an die Existenz des Außenlagers. Auf dem Firmengelände von Rheinmetall steht heute ein Industriepark. Nach dem Krieg war das Werk zunächst enteignet und später in den volkseigenen Betrieb Robotron Büromaschinenwerk umgewandelt worden. Die Stadt Sömmerda ließ 2003 an einer in den 1980er-Jahren errichteten Stele für die Opfer der Todesmärsche am Parkweg/Ecke Uhlandstraße eine Gedenktafel für das Frauenaußenlager anbringen. 2025 richtete die Stadt in einem ehemaligen Pförtnergebäude des Rheinmetallwerks in der Rheinmetallstraße den Gedenk- und Bildungsort „Tor 8“ ein. Ein Mahnmal eines Sömmerdaer Künstlerkollektivs (Heinz Wolf, Wolfgang Schneider, Matthias Hohmann) erinnert dort an die Frauen des Außenlagers. Der Gedenk- und Bildungsort „Tor 8“ wird zukünftig durch Bildungsangebote flankiert und Ausgangspunkt für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Frauenaußenlager sein.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort der Todesmarschstele auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenkortes „Tor 8“ auf GoogleMaps

Kontakt:
Gedenkort „Tor 8“

Literatur:

Francis-Romeo Reich, Kunst und Kultur im Außenlager Sömmerda, Leipzig 2025.

Irmgard Seidel, Sömmerda, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 575-577.


Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946
Judith Rosenberg mit 18 Jahren im DP-Lager Landsberg am Lech, 1946 ©Familie Schneiderman
„Wir bewegten uns wie blinde Mäuse und gehorchten jeglichen Befehlen. Wochenlang gingen wir in eine Richtung, um dann spontan die Richtung zu wechseln.“

Judith Schneiderman

Judith Schneiderman kam als Judith Rosenberg am 22. August 1928 in Rachiw in der heutigen Ukraine (damals Ungarn) als eines von acht Kindern in einer jüdischen Familie zur Welt. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert, wo die SS ihre Eltern und jüngsten Geschwister ermordete. Mit drei Schwestern kam Judith zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen. Eine ihrer Schwestern starb beim Luftangriff im September 1944. Judith und ihre anderen Schwestern überlebten die Lager in Gelsenkirchen und Sömmerda und den Todesmarsch. Im DP-Lager in Landsberg am Lech lernte sie den Buchenwaldüberlebenden Pinek Schneiderman kennen. Sie heirateten, gingen 1947 in die USA und gründeten eine Familie. Mit 72 Jahren schrieb Judith Schneiderman ihre Erinnerung auf. Sie starb 2018.



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