Mühlhausen

22. April 1944 – 2. April 1945

Das Lager

Die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG plante ab Ende 1943, Teile ihrer Produktion aus dem Junkerswerk in Schönebeck in das rund 150 Kilometer entfernte thüringische Mühlhausen zu verlagern. Als neue Produktionsstätte wählte die Konzernführung die Werkhallen der seit 1939 stillgelegten Textilfirma „Thuringia – Kammgarnspinnerei“ aus. Das Werksgelände lag neben der heutigen Kreuzung Wendewehr- und Friedrich-Naumann-Straße. Die bestehenden Werkhallen fungierten als Arbeitsstätte und Häftlingsunterkunft. Ein Barackenlager gab es nicht. Die Unterbringung der ab April 1944 eintreffenden Häftlinge erfolgte in Räumen im Fabrikgebäude, die durch Zwischenwände voneinander getrennt waren. Das gesamte Werk umgab ein Zaun mit Wachtürmen. Der Hof vor den Hallen diente als Appellplatz. Das neue Außenlager erhielt den Tarnnamen „Martha“, zum Teil lief es auch unter der Bezeichnung „Mühlenwerke AG Mühlhausen“. Im September 1944 entstand am Rande des Mühlhäuser Stadtwaldes ein zweites KZ-Außenlager mit weiblichen Häftlingen.

Die Häftlinge

Vermutlich am 22. April 1944 trafen die ersten 61 Häftlinge aus dem Außenlager in Schönebeck in Mühlhausen ein. Auch in Schönebeck hatten sie bereits für Junkers arbeiten müssen. Durch weitere Überstellungen aus dem Hauptlager Buchenwald und aus Schönebeck wuchs die Zahl der Häftlinge beständig. Ende April 1944 waren es 150 und zwei Monate später bereits rund 450. Die Höchstbelegung erreichte das Lager in Mühlhausen mit 578 Häftlingen Ende September 1944. Insgesamt durchliefen rund 660 männliche Gefangene das Lager „Martha“. Die Mehrheit von ihnen galt als politische Häftlinge. Sie stammten überwiegend aus der Sowjetunion, aus Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei. Rund ein Dutzend deutscher Häftlinge setzte die SS vor allem als Funktionshäftlinge ein. Einige wenige Männer waren als Juden oder als Sinti und Roma in das Konzentrationslager eingewiesen worden. Für die rund einjährige Existenz des Lagers sind mindestens zehn Fluchtversuche belegt.

„Am Nachmittag ist das ganze Kommando in Alarmbereitschaft. Überall wurden die Wächter verdoppelt. In der Schreibstube werden die Archive verbrannt und die Abreise organisiert.“
Erling Hansen
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Häftlinge mussten in dem Gebäude arbeiten, in dem sie auch untergebracht waren. Der offizielle Name des verlagerten Junkerswerks lautete „Mühlenwerke AG“. Die meisten Häftlinge wurden unter der Aufsicht von zivilen deutschen Meistern und Vorabeitern im Werkzeugbau und im sogenannten Presswerk eingesetzt. Der Großteil von ihnen zählte als ungelernte Hilfsarbeiter, für die der Junkerskonzern pro Arbeitstag und Häftling vier Reichsmark an die SS zahlte. Unmittelbar nach der Errichtung des Lagers galten relativ kurze Arbeitszeiten: zunächst von 8 bis 16 Uhr, unterbrochen von einer halbstündigen Pause. Ab dem Sommer mussten sie dann in einem Schichtsystem in elfstündigen Tag- und Nachtschichten arbeiten. Zumindest teilweise wurde den Männern ein arbeitsfreier Sonntag gewährt. Zeitweise waren die Häftlinge auch außerhalb des Werks im Einsatz: Sie entluden Eisenbahnwaggons, räumten nach Luftangriffen auf oder beschafften in den Wintermonaten Brennholz im Wald.

Krankheit und Tod

In einer Ecke der Werkhalle, im Bereich der Häftlingsunterkünfte, wurde schrittweise eine Krankenstation eingerichtet. Mitte Juli 1944 bestand sie aus einem Behandlungsraum, einem Dutzend Betten für die Kranken, zwei Zimmern für das Personal, einem Waschzimmer, Toiletten und einem Lagerraum. Die SS setzte den Franzosen Erling Hansen als Häftlingsarzt ein, dem einige Pfleger zur Seite standen – unter Aufsicht des SS-Sanitäters Friedrich Arzt. Er verhielt sich Berichten zufolge menschlich gegenüber den Häftlingen. Neben der Versorgung der Kranken im Lager konnten einzelne Häftlinge auch durch deutsche Ärzte außerhalb des Lagers behandelt werden. Dem Franzosen Georges Henri Schmitz etwa wurde Mitte Juni 1944 im städtischen Krankenhaus ein Finger amputiert. Er hatte sich an einer der Maschinen verletzt. Mindestens 20 Kranke brachte die SS zur Behandlung nach Buchenwald. Vier von ihnen starben unmittelbar nach der Ankunft im Hauptlager. Für das Außenlager in Mühlhausen selbst sind für die Zeit seines Bestehens keine Todesfälle dokumentiert.

Bewachung

SS-Obersturmführer Eugen Dietrich (1889-1966), der seit 1942 zur Buchenwalder SS gehörte, war bis Juli 1944 Kommandoführer in Mühlhausen. Er wechselte danach in gleicher Funktion in das Frauenaußenlager Gelsenkirchen und später nach Sömmerda. Ihm unterstanden in den ersten Monaten als Wachmannschaft 20 SS-Männer. Mit dem Wechsel Dietrichs nach Gelsenkirchen scheint ein größerer Personalwechsel stattgefunden zu haben. Ca. 50 Luftwaffensoldaten ersetzten die SS-Männer der Wachmannschaft. Kommandoführer wurde nun SS-Oberscharführer Franz Janitschke (geb. 1897). Er war zuvor in verschiedenen Lagern der SS-Baubrigade III tätig gewesen, u.a. als Kommandoführer im Außenlager Duisburg. Neben der offiziellen Wachmannschaft stellte Junkers acht bewaffnete Werksangehörige, die ebenfalls Wachaufgaben übernahmen.
Dietrich geriet nach dem Krieg in Gefangenschaft in der Westzone und wurde 1950 entlassen. Ermittlungen gegen Janitschke Anfang der 1970er-Jahre blieben ohne Ergebnisse, weil keine konkreten Straftaten nachgewiesen werden konnten.

Räumung

Am 31. März 1945 erhielt Kommandoführer Janitschke in Buchenwald den Befehl, das Lager zu räumen. Zwei Tage später, am 2. April, trieb die SS die Häftlinge zu Fuß Richtung Buchenwald. Die Kranken wurden auf zwei beschlagnahmten Wagen transportiert, die von Häftlingen gezogen werden mussten. 569 Männer kamen am 4. April in Buchenwald an. Viele von ihnen schickte die SS in den Tagen darauf im Zuge der Teilräumung des Hauptlagers erneut auf Todesmärsche oder Räumungstransporte.

Spuren und Gedenken

Heute gibt es am Standort des ehemaligen Männeraußenlagers Mühlhausen keine baulichen Spuren mehr. Zwischen 1946 und 1996 wurden die Werkhallen für wirtschaftliche Zwecke genutzt. Eine im September 1986 an der Vorderfront des Werks angebrachte Gedenktafel verschwand, nachdem sie im Vorfeld des Gebäudeabrisses 2004 entfernt wurde. Der Mühlhäuser Geschichts- und Denkmalpflegeverein bereitet derzeit eine Informationsstele vor.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Kontakt vor Ort:
Mühlhäuser Geschichts- und Denkmalpflegeverein e.V.

Literatur:

Marc Bartuschka, Zwischen Auschwitz, Bergen-Belsen und Todesmarsch – Die KZ-Außenlager in Mühlhausen, Mühlhausen 2023.


Erling Hansen mit seiner Frau Marie-Josephine, 1941
Erling Hansen mit seiner Frau Marie-Josephine, 1941 ©Yann Hansen
„Am Nachmittag ist das ganze Kommando in Alarmbereitschaft. Überall wurden die Wächter verdoppelt. In der Schreibstube werden die Archive verbrannt und die Abreise organisiert.“

Erling Hansen

Erling Hansen kam am 13. März 1909 im französischen Plérin zur Welt. Er war Arzt. Unter der deutschen Besatzung half der Familienvater französischen Jugendlichen, sich dem Arbeitsdienst in Deutschland zu entziehen. Er wurde denunziert und im November 1943 verhaftet. Zwei Monate später ließ die Gestapo ihn nach Buchenwald deportieren. Im Mai 1944 kam er als Häftlingsarzt in das Außenlager Mühlhausen. Die Befreiung erlebte er am 11. April 1945 in Buchenwald. Er kehrte nach Frankreich zurück und engagierte sich unter anderem für die Gründung einer Lagergemeinschaft Schönebeck-Mühlhausen. Für seine Widerstandstätigkeit wurde er offiziell ausgezeichnet. Erling Hansen starb 2008.



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