Witten-Annen

16. September 1944 – 29. März 1945

Das Lager

Am Rande des Zentrums von Witten-Annen, am damaligen Spiekermannschen Platz, ließ die Betriebsleitung des Annener Gussstahlwerkes Mitte 1942 ein Barackenlager errichten. Das heute von der Immermann-, Arndt- und Westfeldstraße eingerahmte Areal grenzte an die Bahnstrecke Dortmund-Witten. Das Lager, in dem zunächst sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren, wurde später vergrößert, um weitere Zwangsarbeitende unterzubringen. Insgesamt umfasste das Gelände 14 Gebäude – ein Teil davon diente ab September 1944 als KZ-Außenlager. Gesichert war es mit Stacheldraht und Wachtürmen. Die Unterkünfte für die Häftlinge bestanden Berichten zufolge aus bis zu sechs Holzbaracken mit Doppelstockbetten, Tischen, Schemeln und Öfen, für die schon bald das Heizmaterial fehlte. Die Unterkünfte der Wachen lagen direkt neben dem von außen einsehbaren Häftlingslager. Der tägliche Marsch in das rund 600 Meter entfernte Werk in der Stockumer Straße führte mitten durch die Stadt. In der Buchenwalder Lagerverwaltung trug das Lager den Namen „AGW“ oder „Ruhrstahl Annen“.

Die Häftlinge

Am 16. September 1944 überstellte die SS aus Buchenwald 700 männliche KZ-Häftlinge per Bahn nach Witten-Annen. Männer aus der Sowjetunion und aus Frankreich bildeten unter ihnen die größten Gruppen, gefolgt von Polen, Tschechen, Italienern, Belgiern und Deutschen. Es waren Jungen und Männer im Alter von 16 bis 63 Jahren. Die meisten von ihnen galten als politische Häftlinge. Als Lagerältesten setzte die SS den langjährigen politischen Häftling Alfred Spillner ein. Berichten zufolge agierte er äußerst brutal. Durch Tod, Fluchten und Rücküberstellungen ins Hauptlager verringerte sich die Zahl der Häftlinge. Anfang Februar 1945 brachte die SS deshalb 50 weitere Männer nach Witten-Annen. Die meisten von ihnen kamen erst kurz zuvor nach Buchenwald, wo sie für den Einsatz im Gussstahlwerk gemustert wurden. Rund ein Drittel von ihnen waren polnische Juden. Mitte März befanden sich noch etwas mehr als 600 Häftlinge in Witten-Annen. Insgesamt durchliefen mindestens 750 Männer das Lager.

„Schon am dritten Tag nach unserer Ankunft kamen Ingenieure der Fabrik mit tragbaren Tischen in unser Lager, auf denen sie mysteriöse Instrumente aufstellten.“
Claude Pot
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Zwangsarbeit

Das 1865 gegründete Annener Gussstahlwerk (AGW) gehörte zur Ruhrstahl AG. Seit Kriegsbeginn galt es als eine der Spezialfabriken der deutschen Rüstungsindustrie. Der Schwerpunkt lag auf der Herstellung von Stahl für die Kriegsmarine und den Flugzeugbau. Mitte 1944 umfasste die Belegschaft des AGW rund 4.700 Personen. Fast die Hälfte von ihnen waren ausländische Zwangsarbeitende. Die KZ-Häftlinge setzte die Betriebsleitung in der extra gesicherten Halle 7 ein. Dort arbeiteten sie unter der Aufsicht der deutschen Stammbelegschaft für gewöhnlich in zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten an Öfen, Dreh-, Fräs- und Bohrmaschinen, unterbrochen von einer nur halbstündigen Pause. Sonntags gab es in der Regel nur eine Schicht. Der Großteil der Häftlinge galt als Hilfsarbeiter, für die das Werk pro Tag vier Reichsmark an die SS zahlte. Materialmangel führte im März 1945 zum Rückgang der Produktion. Nach Luftangriffen wurden Häftlinge nun auch zu Aufräumarbeiten in der Stadt eingesetzt.

Krankheit und Tod

Das Lager verfügte über eine Krankenstation, in der sich der Häftlingsarzt Boris Klotz, ein Arzt aus dem südfranzösischen Orange, und zwei Pfleger um die Kranken kümmerten. Seitens der SS war ein SS-Scharführer Noltensmeyer als Sanitäter für das Lager zuständig. Die Häftlinge litten unter Unterernährung, Arbeitshetze und Kälte. Schwerkranke oder Verletzte konnten zum Teil auch im Krankenhaus in Witten behandelt werden. Bis Ende März 1945 meldete die Lagerleitung 16 Tote nach Buchenwald. Lungenkrankheiten waren die häufigste Todesursache. Die Toten wurden auf dem Hauptfriedhof in Dortmund und später auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof in Witten-Annen, dem heutigen Kommunalfriedhof, beerdigt. Aus unbekannten Gründen ließ die SS neun sowjetische Häftlinge zurück nach Buchenwald bringen und kurz darauf im Keller des Krematoriums ermorden. Mit zwei Transporten brachte sie zudem über 60 kranke, als arbeitsunfähig geltende Häftlinge zurück nach Buchenwald. Mindestens 14 von ihnen starben kurz darauf an den Folgen der Haft und der Zwangsarbeit in Witten-Annen.

Bewachung

Die Wachmannschaft in Witten-Annen umfasste rund 40 SS-Männer. Viele von ihnen kamen aus dem zuvor aufgelösten Außenlager in Gelsenkirchen. Angehörige des Werkschutzes bewachten die Häftlinge zusätzlich. Das Kommando hatte SS-Oberscharführer Ernst Zorbach (1904-1994). Unter den Häftlingen galt er als Sadist. Der gelernte kaufmännische Angestellte war seit 1931 in der SS und zuvor im KZ Neuengamme. Mitte November 1944 erfolgte seine Versetzung in das Frauenaußenlager Hessisch-Lichtenau. SS-Hauptscharführer Hermann Schleef (1906-1977), seit 1934 in verschiedenen Konzentrationslagern tätig, wurde sein Nachfolger. Als stellvertretender Kommandant eines Ghettos und eines KZ-Außenlagers in Litauen beteiligte er sich an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Baltikum. Wegen seiner Verbrechen dort verurteilte ihn ein Gericht 1947 zu zwei Jahren Gefängnis. Strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn und Zorbach wegen Verbrechen in Witten-Annen führten in den 1960er- und 1970er-Jahren zu keiner Verurteilung.

Räumung

Ende März 1945 befanden sich noch rund 600 Häftlinge im Außenlager Witten-Annen. In der Nacht zum 29. März begann die SS, das Lager zu räumen. Sie trieb die Häftlinge zu Fuß in Richtung Nordosten. Am Abend des 31. März erreichte der Treck Lippstadt, wo die SS die Häftlinge in einen Kinosaal sperrte. Am nächsten Morgen, dem Ostersonntag, waren die SS-Wachen verschwunden. Volkssturmmänner führten die Häftlinge vor die Stadt und überließen sie sich selbst. Noch am selben Tag trafen amerikanische Truppen in Lippstadt ein und befreiten die Häftlinge endgültig. Berichten zufolge ermordeten SS-Männer während des Marsches eine unbekannte Zahl von Häftlingen. Auch in Lippstadt starben in den Tagen nach der Befreiung noch ehemalige Häftlinge des Außenlagers Witten-Annen an den Folgen der Haft.

Sterbeurkunde des Standesamtes Lippstadt für Marcel Lachaud, 6. September 1946.
Sterbeurkunde des Standesamtes Lippstadt für Marcel Lachaud, 6. September 1946. Der Franzose starb am 10. April 1945 im Katholischen Krankenhaus in Lippstadt an den Folgen der KZ-Haft. Er wurde in Lippstadt beerdigt, seine sterblichen Überreste später exhumiert und nach Frankreich überführt. ©Arolsen Archives

Spuren und Gedenken

In zwei SS-Baracken befand sich von 1945 bis 1958 ein Kindergarten. Das übrige Lagergelände und die Häftlingsbaracken wurden geräumt und mit Wohnhäusern bebaut oder als Parkplatz genutzt. Eine erste kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes brachte ein Schülerprojekt in den 1980er-Jahren. 1985 ließ die Stadt einen Gedenkstein am ehemaligen Lagergelände aufstellen. Teile des Geländes wurden unter Denkmalschutz gestellt, durch archäologische Grabungen erschlossen und zu einem Gedenkort gestaltet. Zwei Informationstafeln ergänzen seit 2013 die Gestaltung des Ortes, an dem jährliche Gedenkveranstaltungen stattfinden. Auf dem Kommunalfriedhof in Witten-Annen erinnert seit 1993 ein Denkmal an die in Witten-Annen gestorbenen Zwangsarbeitenden, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte
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Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte ©Gedenkstätte Buchenwald
Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte
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Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte ©Gedenkstätte Buchenwald
Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte
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Die Gedenkstätte am ehemaligen Lagerstandort, 2023. Foto: Ronald Hirte ©Gedenkstätte Buchenwald

Literatur:

Ralph Klein, Das KZ-Außenlager in Witten-Annen. Geschichte, städtebauliche Nutzung und geschichtspolitischer Umgang seit 1945, Berlin 2015.

Manfred Grieger u. Klaus Völkel, Das Außenlager „Annener Gußstahlwerk“ (AGW) des Konzentrationslagers Buchenwald. September 1944-April 1945, Essen 1997.


Claude Pot einige Monate nach seiner Rückkehr aus der Deportation, Ende 1945
Claude Pot einige Monate nach seiner Rückkehr aus der Deportation, Ende 1945 ©Familie Pot
„Schon am dritten Tag nach unserer Ankunft kamen Ingenieure der Fabrik mit tragbaren Tischen in unser Lager, auf denen sie mysteriöse Instrumente aufstellten.“

Claude Pot

Claude Pot wurde am 25. August 1922 in Marnes-la-Coquette bei Versailles geboren. Er studierte Medizin in Paris und schloss sich Ende 1942 der Résistance an. Im Mai 1943 verhaftete ihn die Gestapo. Acht Monate verbrachte er im Gefängnis von Fresnes bei Paris, bevor er im Januar 1944 nach Buchenwald deportiert wurde. Im September 1944 überstellte die SS Claude Pot in das neue Außenlager in Witten-Annen. An der Seite des französischen Häftlingsarztes Boris Klotz arbeitete er dort als Krankenpfleger. Unmittelbar nach der Rückkehr in seine Heimat schrieb er seine Erinnerungen an die Gefangenschaft auf. Er schloss sein Medizinstudium ab, gründete eine Familie und arbeitete als Arzt in Auxerre, wo er 2014 mit 91 Jahren starb.



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