Hessisch Lichtenau (Frauen)

1. August 1944 – 29. März 1945

Das Lager

Im Zuge der Aufrüstung der Wehrmacht begann ab 1936 der Bau der Sprengstofffabrik im heutigen Ortsteil Hirschhagen der hessischen Kleinstadt Hessisch Lichtenau, 20 km südöstlich von Kassel. Betrieben wurde das Werk von der Gesellschaft m.b.H. zur Verwertung chemischer Erzeugnisse (kurz Verwertchemie), die ein Tochterunternehmen der Dynamit Nobel AG war. In den Kriegsjahren arbeiteten in der Sprengstofffabrik hauptsächlich deutsche Frauen, ausländische Zwangsarbeitende und Kriegsgefangene. Ab Anfang August 1944 setzte die Werksleitung zusätzlich 1.000 weibliche KZ-Häftlinge ein. Die Jüdinnen waren im „Lager Vereinshaus“ am südlichen Stadtrand zwischen der heutigen Heinrichstraße und der Hopfelder Straße untergebracht. Das mit Stacheldraht umzäunte Lager bestand aus zehn hölzernen Wohnbaracken und mehreren Funktionsgebäuden und hatte zuvor als Unterkunft für Bauarbeiter gedient. Die rund fünf Kilometer lange Strecke zur Fabrik mussten die Frauen in der Regel zu Fuß zurücklegen. Zeitweise wurden sie mit einem Zug gefahren. Die offizielle Bezeichnung des Lagers lautete „SS Kommando Lager Vereinshaus Hessisch Lichtenau“. Mitte August 1944 richtete die Verwertchemie im hessischen (Stadt)Allendorf ein zweites Frauenaußenlager ein.

Häftlinge

1.000 jüdische Frauen trafen am 1. August 1944 aus Auschwitz in Hessisch Lichtenau ein. Es handelte sich vor allem um Jüdinnen aus Ungarn und den seit 1940 zu Ungarn gehörenden Nachbarländern. Aus ihren Heimatorten waren sie im Frühjahr des Jahres über verschiedene Ghettos nach Auschwitz deportiert worden, wo die SS viele ihrer Angehörigen ermordet hatte. Weil sie als arbeitsfähig galten, durften sie weiterleben. Die übrigen Frauen stammten aus Rumänien, der Slowakei, Jugoslawien, Polen und Italien. In der Lagerverwaltung von Buchenwald wurde das Frauenlager in Hessisch Lichtenau zu den „jüdischen Außenkommandos“ gezählt. Das Durchschnittsalter der Frauen lag zwischen 25 und 30 Jahren. Nicht selten waren es Mütter mit ihren Töchtern oder Schwestern, die gemeinsam nach Hessisch Lichtenau geschickt wurden. Anfang September 1944 brachte die SS drei weitere Frauen aus Auschwitz ins Lager, die in der Krankenstation eingesetzt wurden. Die Belegung des Lagers blieb bis zur Rücküberstellung von 206 Frauen nach Auschwitz-Birkenau im Oktober stabil. Ende März 1945 befanden sich noch 790 Frauen im „Lager Vereinshaus“.

„Eine Granate wog 20 Kilo, und wir mussten lernen, mit zwei Granaten gleichzeitig umzugehen.“
Trude Levi
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Zwangsarbeit

Die Frauen arbeiteten hauptsächlich in der Füllstation und in den sogenannten Pressengebäuden der Sprengstofffabrik. In der Füllstation bereiteten sie die Hülsen für die Befüllung mit Sprengstoff vor. Die Frauen mussten die Teile auspacken, auseinanderschrauben und die Granaten und Bomben nach der Befüllung reinigen. In den Pressengebäuden waren sie ungeschützt giftigen Stoffen, unter anderem Pikrinsäure, ausgesetzt, die zu Vergiftungen und Verfärbungen von Haut und Haaren führten. Außerdem bestand in diesem Teil des Prozesses eine erhöhte Explosionsgefahr. Neben der Arbeit in der Fabrik wurden einige Frauen auch zu Aufräumarbeiten, zum Entladen von Eisenbahnwaggons oder zu Erdarbeiten herangezogen. Gearbeitet wurde in der Regel in 11-Stunden-Schichten mit einer halbstündigen Pause. Sonntags hatten alle oder zumindest der Großteil der Frauen arbeitsfrei. In der Fabrik arbeiteten sie unter der Aufsicht von zivilen Vorarbeitern und oft auch Seite an Seite mit deutschen Arbeiterinnen und ausländischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen.

Krankheit und Tod

Im Lager gab es eine Krankenstation, in der sich die Medizinerin Luciana Nissim aus Turin als Häftlingsärztin gemeinsam mit zwei Pflegerinnen um die Kranken kümmerte. Für Zahnbehandlungen war eine ungarische Zahnärztin zuständig. SS-Sanitäter Unterscharführer Odenhusen und der Betriebsarzt der Fabrik, Dr. Walter Fuckert, überwachten sie. Im ersten Monat war die Zahl der Kranken sehr hoch. Zwischen 100 und 200 Frauen wurden in dieser Zeit in den täglichen Arbeitseinsatzmeldungen als krank, „schwach“ oder „in Schonung“ gekennzeichnet. Am 27. Oktober 1944 brachte die SS 206 Frauen, die als zu krank zum Arbeiten galten, zurück nach Auschwitz-Birkenau. Vermutlich ermordete die SS sie dort unmittelbar nach der Ankunft. Zwei weitere Frauen, darunter eine im achten Monat Schwangere, schob die SS im Januar 1945 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen ab, wo sich ihre Spur verliert. Die Frauen im Lager litten vor allem an Folgen des Umgangs mit den giftigen Sprengstoffen. Insgesamt sind für das Lager fünf Todesfälle belegt. Als Todesursachen führte die SS Scharlach, Lebervergiftung, Lungenentzündung und Herzschwäche an. Die Toten ließ die SS im Krematorium in Kassel einäschern.

Häftlingspersonalkarte des KZ Buchenwald für Magda Mandel aus dem ungarischen Téglás, 1944.
Häftlingspersonalkarte des KZ Buchenwald für Magda Mandel aus dem ungarischen Téglás, 1944. Die 18-Jährige starb zwei Monate nach ihrer Ankunft in Hessisch Lichtenau. Die offizielle Todesursache lautete „Herzinsuffizienz bei Gelbsucht und Leberentzündung“, was sehr wahrscheinlich eine direkte Folge der Arbeit mit giftigen Substanzen war, die vor allem zu Schädigungen der Leber führte. ©Arolsen Archives

Bewachung

Die Wachmannschaft in Hessisch Lichtenau stand unter dem Kommando des SS-Sturmscharführers Wilhelm (Willi) Schäfer (geb. 1906 oder 1908), einem gelernten Handelsreisenden. Als sein Stellvertreter fungierte seit November 1944 SS-Oberscharführer Ernst Zorbach (1904-1994), der zuvor Kommandoführer im Außenlager Witten-Annen war. Im Vergleich zu Schäfer schilderten Überlebende ihn als gewalttätig. Die Wachmannschaft umfasste 24 bis 27 SS-Männer und 26 bis 32 SS-Aufseherinnen. Viele der Aufseherinnen waren vorher als Arbeiterinnen in der Sprengstofffabrik tätig gewesen. Vor ihrem Einsatz im Außenlager erhielten sie eine kurze Ausbildung im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Teilweise stammten sie aus der Umgebung von Hessisch Lichtenau, während andere für den Einsatz dienstverpflichtet worden waren und aus unterschiedlichen Regionen kamen. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft in Kassel wegen Erschießungen und Selektionen von Häftlingen in Hessisch Lichtenau wurde ergebnislos 1976 eingestellt.

Räumung

Vermutlich am 29. März 1945 wurde das Lager aufgrund der herannahenden Front aufgelöst. Die SS schickte die 790 in Hessisch Lichtenau verbliebenen Jüdinnen per Bahn nach Leipzig. Mehreren Frauen gelang es, sich vor Abfahrt des Zuges zu verstecken. Belegt ist, dass am 5. April 1945 ein Transport mit 500 Häftlingen von Hessisch Lichtenau in das Frauenaußenlager Leipzig-Schönau kam. Erwähnt wird auch das Außenlager Thekla, in dem die Frauen zumindest einige Tage in einem abgetrennten Bereich untergebracht waren. Im Rahmen der Räumung der verschiedenen Lager in Leipzig wurden die Frauen gezwungen, in verschiedenen Kolonnen von Leipzig aus nach Süden und Osten zu marschieren. Berichten zufolge befreiten amerikanische Truppen einen Großteil der Frauen am 25. April 1945 in Wurzen, 35 km von Leipzig-Schönau entfernt. Das Schicksal der übrigen Häftlinge ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Unmittelbar nach dem Krieg entmilitarisierte und demontierte die amerikanische Militärregierung die Sprengstofffabrik und sprengte zahlreiche Gebäude. Das ehemalige Werksgelände ist heute ein Industriegebiet. Nach dem Krieg diente das ehemalige „Lager Vereinshaus“ als Flüchtlingslager und wurde vom örtlichen Realgymnasium genutzt. Danach wurden die Baracken nach und nach abgerissen. Heute befindet sich dort ein Schulkomplex. 1986 ließ die Stadt einen Gedenkstein für die ungarischen Jüdinnen errichten. Knapp zehn Jahre später wurde an der Hirschhagener Straße am Ortseingang von Hirschhagen ein Gedenkstein für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der ehemaligen Sprengstofffabrik aufgestellt. Im Jahr 2016 folgte eine Stele zur Erinnerung an die 206 Frauen, die am 27. Oktober 1944 aus Hessisch Lichtenau nach Auschwitz gebracht wurden. 2010 ließ die Stadt den „Themenweg Hirschhagen“ anlegen. 15 Tafeln geben einen historischen Überblick über die Geschichte der Sprengstofffabrik im Hessisch Lichtenauer Stadtteil Hirschhagen. Es werden auch Führungen angeboten. Einige Tafeln erinnern an die weiblichen KZ-Häftlinge des Außenlagers Buchenwald.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort der Stele zur Erinnerung an die 206 Frauen auf GoogleMaps

Kontakt:
Themenweg Hirschhausen

Gedenkstein für die ungarischen Jüdinnen des KZ-Außenlagers Hessisch Lichtenau, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel
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Gedenkstein für die ungarischen Jüdinnen des KZ-Außenlagers Hessisch Lichtenau, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel ©Ortsbeirat Hirschhagen
Gedenkstein für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der ehemaligen Sprengstofffabrik in Hirschhagen, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel
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Gedenkstein für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der ehemaligen Sprengstofffabrik in Hirschhagen, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel ©Ortsbeirat Hirschhagen
Informationstafel 5A und 5B des „Themenwegs Hirschhagen“, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel
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Informationstafel 5A und 5B des „Themenwegs Hirschhagen“, 2025. Foto: Karl-Heinrich Schlegel ©Ortsbeirat Hirschhagen

Literatur:

Irmgard Seidel, Hessisch-Lichtenau, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 460-462.

Dieter Vaupel, Das Außenkommando Hess. Lichtenau des Konzentrationslagers Buchenwald 1944/45. Eine Dokumentation (Nationalsozialismus in Nordhessen 3), Kassel 1984.


Gertrude Mosonyi, 1943
Gertrude Mosonyi, 1943 ©Wiener Holocaust Library Collections
„Eine Granate wog 20 Kilo, und wir mussten lernen, mit zwei Granaten gleichzeitig umzugehen.“

Trude Levi

Trude Levi wurde am 23. April 1924 als Gertrude Mosonyi in Szombathely, Ungarn, als Tochter einer Österreicherin und eines Ungarn geboren. Im Mai 1944 mit ihrer sozialistischen jüdischen Familie in ein Ghetto gezwungen und im August nach Auschwitz deportiert, brachte die SS sie im September zur Zwangsarbeit in das Buchenwald-Außenlager Hessisch Lichtenau. Bei der Evakuierung des Lagers kam sie nach Leipzig-Schönau, wo sie am 23. April 1945 auf einem Marsch aus dem Lager bei Klingenhain zurückblieb. Nach der Befreiung ging Mosonyi zur Erholung nach Frankreich. 1946 heiratete sie den Musiker Stephan Deak, mit dem sie im April 1948 nach Südafrika übersiedelte. 1949 emigrierte sie mit ihrem sechs Monate alten Sohn nach Israel, 1957 wanderte die Familie nach England aus, wo sie in London als Archivarin, Bibliothekarin und Pädagogin arbeitete. 1970 heiratete sie Franz Levi. Nach ihrer Pensionierung schrieb sie zwei Bücher über ihre Kriegserlebnisse. Trude Levi starb am 5. Dezember 2012 in London.



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