Hesdin (SS-Baubrigade V)

26. März 1944 – August 1944

Das Lager

Für den Bau von Abschussanlagen der sogenannten Vergeltungswaffen „V1“ und „V2“ ließ SS-Chef Himmler Anfang 1944 die neue SS-Baubrigade V aufstellen. Offiziell dem Konzentrationslager Buchenwald unterstellt, war ihr Einsatzgebiet das deutsch besetzte Nordfrankreich. Der Hauptstandort in Frankreich, von wo aus die SS den Einsatz der Brigade organisierte, lag in der Gemeinde Doullens in der Region Hauts-de-France. Größere Nebenlager der Baubrigade V richtete die SS in Aumale, Rouen und Hesdin ein. In Hesdin, 70 Kilometer nördlich von Amiens, diente die Kaserne „La Frézelière“, eine Kavalleriekaserne aus napoleonischer Zeit, ab Ende März 1945 als Häftlingsunterkunft. Berichten zufolge waren die Häftlinge in verschiedenen Stockwerken der Kaserne in großen Sälen untergebracht.

Die Häftlinge

Die SS bildete die SS-Baubrigade V aus Häftlingen der beiden Baubrigaden II und III. Vom Hauptstandort der SS-Baubrigade III in Köln-Deutz wurden sie nach Frankreich verlegt. Mit vier Transporten brachte die SS im März und April 1944 insgesamt 2.526 Häftlinge nach Frankreich – etwa zwei Drittel von ihnen stammten aus der Sowjetunion, rund ein Drittel aus Polen, einzelne Männer aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Um Kontakte zur Bevölkerung und Fluchtversuche zu verhindern, wählte die SS vor allem Häftlinge aus, die kein Französisch sprachen. Dennoch half ihnen die französische Bevölkerung. Für alle Standorte der Baubrigade V ist eine sehr hohe Zahl von 123 Fluchten belegt. Wahrscheinlich durchliefen alle Männer die Zitadelle in Doullens, bevor sie in andere Lager kamen. Am 26. März 1944 schickte die SS 576 Häftlinge nach Hesdin. Über die Entwicklung der Lagerbelegung in den Monaten danach liegen keine Informationen vor.

„Wir wurden in Kavalleriekasernen, die noch aus der Zeit Napoleons stammten, untergebracht. Sie waren von einer hohen Mauer aus roten Ziegeln umgeben, die oben mit Stacheldraht versehen war.“
Tomasz Kiryłłow
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Zwangsarbeit

Wie alle Häftlinge in den Lagern der SS-Baubrigade V mussten auch die Männer in Hesdin Stellungen und verbunkerte Nachschubanlagen für Flugbomben und Raketen anlegen und waren zusätzlich für den Bau von Straßen und zum Ausheben von Schützengräben eingesetzt. Täglich wurden sie zu den unterschiedlichen Arbeitsorten gefahren. In Bergueneuse und in der Nähe von Mimoyecques sollen zeitweise auch kleinere Nebenlager an Baustellen existiert haben. Details hierüber sind jedoch nicht bekannt.

Krankheit und Tod

Über die Krankenversorgung an den Standorten der Baubrigade V ist nicht viel bekannt. Als Häftlingsarzt setzte die SS den polnischen Arzt Władysław Wikler ein. Vermutlich wurde er jede Woche zu den unterschiedlichen Standorten der Baubrigade gebracht, um die Kranken zu versorgen. Berichten zufolge befand sich an einem der Lagerstandorte das zentrale Krankenrevier der Baubrigade. Wo dieses war, lässt sich jedoch nicht eindeutig klären. Nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge brachte die SS zurück nach Buchenwald. Für das Lager in Hesdin sind mindestens neun Todesfälle belegt. Drei Häftlinge wurden nach Angaben der SS bei Fluchtversuchen erschossen, vier starben an den Folgen von Arbeitsunfällen sowie zwei weitere Häftlinge an Lungentuberkulose. Wo die SS die Toten beerdigen oder einäschern ließ, ist nicht dokumentiert.

Bewachung

Als Kommandoführer der gesamten SS-Baubrigade V wurde der SS-Sturmbannführer Gerhard Weigel (1908-1998) eingesetzt. Der gelernte Heizungsingenieur aus dem sächsischen Flöha war seit 1930 in der SS aktiv. Nach Stationen in den Konzentrationslagern Sachsenburg, Buchenwald und Sachsenhausen sowie Tätigkeiten in der Bauabteilung des Verwaltungsamtes der SS übernahm er 1942 im Konzentrationslager Neuengamme als Kommandoführer die SS-Baubrigade II. Im März wechselte er in gleicher Funktion in die neue Baubrigade V. Für alle Lagerstandorte in Nordfrankreich unterstanden ihm 95 SS-Wachmänner, 26 SS-Angehörige für Verwaltung und Technik, 61 Soldaten des Heeres und 213 Soldaten der Luftwaffe. Wie viele von ihnen die Wachmannschaft in Hesdin bildeten und wer diese vor Ort befehligte, ist nicht bekannt.
Zwei Ermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg wegen Verbrechen im Kontext des Einsatzes der SS-Baubrigade V wurden in den 1970er-Jahren ergebnislos eingestellt. Gerhard Weigel arbeitete nach dem Krieg unbehelligt weiter als Ingenieur in Westdeutschland.

Räumung

Wegen des Vormarsches der Alliierten in Frankreich wurde die Baubrigade V ab August 1944 aufgelöst. Die SS sammelte die Häftlinge aus den französischen Außenlagern in Doullens und schickte sie nach Deutschland zurück. Zur Zwangsarbeit kamen sie in unterschiedliche Lager im Harz. Mit der Unterstellung dieser Lager unter das verselbstständigte Konzentrationslager Mittelbau-Dora waren die Häftlinge der ehemaligen Baubrigade V ab Ende Oktober 1944 keine Buchenwald-Häftlinge mehr.

Spuren und Gedenken

Von der Kaserne, in der die Häftlinge untergebracht waren, ist nur noch ein Gebäude erhalten, an dem auf Initiative der U.N.A.D.I.F. (Union Nationale des Associations de Déportés, Internés et Familles de Disparus) und der Stadt Hesdin 1975 in Anwesenheit des polnischen Überlebenden Tomasz Kiryłłow eine Gedenktafel angebracht wurde. Das Gebäude wird heute als Fest- und Veranstaltungssaal genutzt.

Link zum heutigen Standort mit Gedenktafel auf GoogleMaps

Literatur:

Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005.

Karola Fings, Hesdin (SS-Baubrigade V), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 458-460.


„Wir wurden in Kavalleriekasernen, die noch aus der Zeit Napoleons stammten, untergebracht. Sie waren von einer hohen Mauer aus roten Ziegeln umgeben, die oben mit Stacheldraht versehen war.“

Tomasz Kiryłłow

Tomasz Kiryłłow wurde am 24. März 1925 in Belarus geboren. Seine Familie emigrierte 1927 nach Frankreich, kehrte 1935 jedoch nach Polen – die Heimat seiner Mutter – zurück. Die deutschen Besatzer verschleppten den 17-Jährigen 1943 als Zwangsarbeiter nach Wetzlar. Wegen Arbeitssabotage wies die Gestapo ihn im August 1943 in das KZ Buchenwald ein. Er durchlief das Außenlager in Schönebeck und kam im März 1944 mit der Baubrigade V nach Frankreich. Mit Hilfe des französischen Widerstands gelang ihm im Mai 1944 die Flucht aus dem Lager in Hesdin. Er schloss sich der Widerstandsgruppe an und kehrte nach dem Krieg nach Polen zurück. Tomasz Kiryłłow starb 1999. Die Initiative „Wetzlar Erinnert e.V.“ würdigte ihn 2017 mit einer Gedenktafel.



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