
Max Goldmann wurde 1897 in Nazareth (Palästina) in eine jüdische Familie geboren. Ab 1916 studierte er Jura in Beirut und emigrierte 1922 nach Paris, wo er als Anwalt arbeitete. Im Juni 1940 floh er vor dem Einmarsch der Wehrmacht nach Perpignan (Südfrankreich). Dort wurde er Anfang Januar 1944 verhaftet und kurz darauf nach Buchenwald deportiert. Zur Zwangsarbeit kam er in die Außenlager nach Rottleberode und Jena. Nach einem Todesmarsch erlebte er im Mai 1945 in Leitmeritz, dem heutigen Litoměřice, die Befreiung. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich arbeitete er bis zu seinem Tod 1957 als Schriftsteller unter dem Namen „Maxime Gam“. 2023 veröffentlichte seine Familie erstmals seinen Bericht über seine Hafterfahrungen.
Aus den Erinnerungen von Max Goldmann
In Jena
„Mein Leben in Jena dauerte ein halbes Jahr, vom 4. Oktober bis zum 4. April, dem Tag, an dem man uns infolge des amerikanischen Vormarsches im Gepäck unserer Machthaber nach Goldnitz [Anm.: Colditz] brachte.“
Der Kommandant
„Um unsere Aufregung und unsere mangelnde Disziplin in den Griff zu bekommen, sagte der Kommandant mit dem vorstehenden Bauch eines Tages, als wir nach der Arbeit in der Fabrikhalle antraten, zu uns: ‚Ich bin stark genug, um euch alle zu bändigen, und nur weil von Osten her ein paar russische Regimenter einfallen, werde ich meine Haltung euch gegenüber noch lange nicht ändern…‘“
Die mangelnde Hygiene
„Den ganzen Tag lang das Waten durch Dreck und Unrat, Abfall und Tierfäkalien, vermengt mit Getreideresten und diversen Baustoffen, im Staub und Schlamm der Transportwaggons, Waggons mit Sand, Zement und Kalk, die mitunter Vieh, Gerätschaften und diverse Lebensmittel befördern, nie gereinigt, nie gefegt, nie desinfiziert werden, die verkotet sind, verdreckt, verseucht und rostig wegen der überlangen Nutzung, wegen aller möglichen Schlampereien, Fahrlässigkeit, Gedankenlosigkeit ... Wir ekelten uns, wurden nachlässig, sahen nicht mehr so genau hin, wir lümmelten uns rein und dachten nicht mehr an das Ungeziefer, das wir uns dort holten; mittags vorm Suppeessen blieb uns kaum Zeit, uns zu waschen, wir aßen mit kot- und dreckverspritzten Händen; abends, wenn wir heimkamen, war kein Gedanke daran, sich auch nur halbwegs zu waschen; ausgehungert, durstig, erschöpft; wie Buridans Esel schlang jeder seine paar Bissen Brot herunter, die in ein bisschen scheußlichen Sud getunkt waren, und sank völlig fertig auf sein Lager.“
Selbstbehauptung
„Jena war für mich eine merkwürdige Zeit, was meine Hirntätigkeit angeht, vor allem in den Zeiten, wo ich Nachtschicht hatte. Ich mochte noch so müde sein, wenn ich morgens aus der Fabrik kam; ich nahm mir durchaus vor, den Schlaf der vergangenen Tage nachzuholen; ich aß den mageren Happen, den unsere Gebieter uns vorsetzten; wenn ich mich endlich auf dem Stroh ausstreckte, eingewickelt in eine doppelte Lage Decken (meine eigene und die eines Kameraden aus der Tagschicht), war es etwa sieben; gegen elf aber wachte ich auf, um pinkeln zu gehen – man pinkelt viel im Lager, alles Essen war flüssig und wurde in Form von Harn wieder ausgeschieden –, ich konnte aber nicht mehr einschlafen. Der Hunger quälte mich und ließ mich von leckerem Essen träumen, Speisefolgen, die ich einmal zubereitet hatte oder die zuzubereiten ich mir vornahm, sollte ich je eines Tages wieder frei sein. Und ich machte auch Pläne, was ein Riesenglück für mich war, dachte nach über literarische und dichterische Vorhaben, über wirtschaftliche, politische oder sonstige; es war meine Ablenkung, meine Flucht aus der Wirklichkeit. Ich stieg von meinem Strohlager herab, öffnete ein klein wenig das Fenster, um etwas Licht zu haben, ich schrieb und schrieb, schrieb ganze Blätter voll.“
Aus: Max Goldmann, Pupille de la Gestapo, Paris 2023, S. 198 ff. (Übersetzung aus dem Französischen)