Leipzig-Schönefeld (Frauen)

9. Juni 1944 – 13./14. April 1945

Das Lager

Der Rüstungskonzern „Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft“ (HASAG) beutete an allen seinen Standorten im Krieg Zwangsarbeitende, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge aus. Im Juni 1944 richtete die HASAG an ihrem Hauptsitz in Leipzig-Schönefeld ein Lager für Tausende weibliche KZ-Häftlinge ein. Es wurde das mit Abstand größte Buchenwalder Frauenaußenlager. Die Organisation erfolgte über die Buchenwalder Lagerkommandantur. Formal war das Lager dem Frauen-KZ Ravensbrück zugeordnet und gehörte erst ab dem 1. September 1944 offiziell zum Konzentrationslager Buchenwald. Die ab Juni aus Ravensbrück eintreffenden Häftlinge mussten zunächst in Baracken schlafen. Ab August diente ein ehemaliges Fabrikgebäude im Nordwerk, in der heutigen Kamenzer Straße 12, als Hauptunterkunft. Es beherbergte Schlafräume (1. Obergeschoss), Lagerküche und Krankenstation (Erdgeschoss) sowie Waschräume und die Zellen des sogenannten Bunkers (Keller). Daneben waren die Frauen später auch in einem angrenzenden Barackenlager untergebracht. Das Lagerareal umgab ein Elektrozaun mit Wachtürmen. In direkter Nachbarschaft errichtete die HASAG Ende November 1944 zusätzlich ein Außenlager für männliche KZ-Häftlinge.

Die Häftlinge

Die SS überstellte die ersten 800 Frauen am 9. Juni 1944 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Leipzig-Schönefeld. Sie galten als politische Häftlinge. Die größte Gruppe stammte aus Polen, die übrigen Frauen kamen aus der Sowjetunion, manche waren kriegsgefangene Soldatinnen der Roten Armee. Fast alle Funktionsposten im Lager besetzte die SS mit Frauen aus der Gruppe der politischen Polinnen. Die Belegung des Lagers stieg rasant. Mitte Juli trafen weitere 2.000 Frauen aus Ravensbrück ein – aus fast allen Teilen des deutsch besetzten Europas. Die meisten unter ihnen kamen aus der Sowjetunion, aus Frankreich, Belgien und Griechenland.
Anfang August brachte die SS erstmals über 1.200 jüdische Häftlinge aus Polen in das Lager. Es waren Frauen – viele von ihnen mit ihren Kindern –, die zuvor im Zwangsarbeitslager für Juden im polnischen Skarżysko-Kamienna für die HASAG hatten arbeiten müssen. Seine Höchstbelegung erreichte das Lager im Dezember 1944 mit 5.091 Häftlingen. Während des elfmonatigen Bestehens gab es eine große Fluktuation unter den Häftlingen. Angeblich Arbeitsunfähige wurden abgeschoben und ersetzt, ganze Gruppen von Frauen in andere Außenlager der HASAG verlegt.

„Sechstausend Frauen waren wir, die bei der HASAG einen Beitrag zur Rüstungsindustrie des ‚Groẞen Reiches‘ leisten sollten. Sämtliche Nationalitäten Europas waren unter uns vertreten.“
Mercedes Núnez Targa
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Zwangsarbeit

Die meisten Frauen mussten im nahegelegenen Hauptwerk der HASAG Zwangsarbeit leisten, wo vor allem Munition, Granaten und Panzerfäuste produziert wurden. In der Produktion übernahmen die Frauen unterschiedliche Aufgaben. Sie bedienten große Drehbänke, andere Maschinen und Öfen oder säuberten, kontrollierten und sortierten die fertiggestellten Waffen. Berichten zufolge handelte es sich um extrem anstrengende Tätigkeiten. In der Fabrik arbeiteten die Frauen, mitunter Seite an Seite mit Zwangsarbeitern, in zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten, unterbrochen von einer einstündigen Pause – alles unter Aufsicht der SS-Aufseherinnen, die das Tempo der Produktion streng kontrollierten. Ein kleinerer Teil der Frauen wurde zeitweise auch zum Bau von Baracken eingesetzt. Rund 200 Frauen waren durchgängig im Lager beschäftigt, etwa als Schusterinnen, Schneiderinnen, in der Häftlingsküche oder in der Krankenstation. Auch an den Sonntagen musste ein Teil der Frauen in der Fabrik und im Lager arbeiten.

Krankheit und Tod

Die Krankenstation des Lagers befand sich im Erdgeschoss des als Unterkunft genutzten Fabrikgebäudes. Die Zahl der Kranken war sehr hoch. Zwischen 100 und 250 Frauen wurden täglich in der Krankenstation behandelt. Vier polnische Häftlingsärztinnen und 13 polnische Häftlingspflegerinnen kümmerten sich um die Kranken. Die Aufsicht über sie lag in den Händen des SS-Sanitäters Dressler. Ein Vertragsarzt namens Dr. Lutze hatte vor allem die Aufgabe, Totenscheine zu unterzeichnen. Über 400 angeblich nicht mehr arbeitsfähige Frauen ließ die SS in andere Lager bringen. Hierzu zählten auch Schwangere oder Frauen mit kleinen Kindern. 72 Frauen und Kinder schickte die SS Ende August 1944 nach Auschwitz, wo sie die meisten ermordete. Später gingen die Transporte mit Kranken in die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen.
Nachweislich sechs Kinder wurden im Lager geboren, von denen vier nach kurzer Zeit starben. Lediglich der Ende März geborene Szymon Herling und die am 13. April 1945 geborene Estare Kurz überlebten. Neben den Säuglingen starben bis zur Räumung des Lagers mindestens 17 Frauen. Die Toten ließ die SS im Krematorium auf dem Leipziger Südfriedhof einäschern und die Urnen auf dem Ostfriedhof beisetzen.

Bewachung

Bei der Gründung des Lagers setzte die Buchenwalder Lagerkommandantur SS-Obersturmführer Wolfgang Plaul (1909-1945) als Kommandoführer ein. 1931 in die NSDAP und SS eingetreten und nach Stationen in den Konzentrationslagern Sachsenburg, Sachsenhausen und Wewelsburg, war er zeitweilig 2. Schutzhaftlagerführer in Buchenwald und seit 1943 Kommandoführer im Außenlager Schmiedebach („Laura“) gewesen. Neben seiner Tätigkeit in Leipzig-Schönefeld beaufsichtigte er auch alle weiteren Buchenwalder HASAG-Außenlager. Für die äußere Bewachung des Lagers unterstanden ihm im März 1945 112 SS-Männer. Die innere Bewachung des Lagers lag in den Händen von 60 SS-Aufseherinnen. An ihrer Spitze standen zunächst als Oberaufseherin Käthe (Katharina) Heber und später Elisabeth Saretzki – beide bereits länger im KZ-Dienst. Die übrigen Aufseherinnen waren zumeist aus der Belegschaft der HASAG angeworben worden.
Ermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg wegen Verbrechen in Leipzig-Schönefeld führten in den 1970er-Jahren zu keinem Ergebnis. Sowjetische Behörden hatten Wolfgang Plaul bereits 1945 verhaftet. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn im selben Jahr zum Tode.

Räumung

Aufgrund der näherkommenden amerikanischen Truppen begann die SS, die beiden Lager in Leipzig-Schönefeld am 13. April 1945 zu räumen. Insgesamt 5.800 Häftlinge trieb sie am 13. und 14. April in zwei Kolonnen in Richtung Osten, unter ihnen Männer und Frauen aus anderen bereits geräumten Außenlagern. Rund 250 kranke Frauen blieben mit einigen Ärztinnen und Pflegerinnen im Lager zurück. Die SS überließ die Zurückgebliebenen sich selbst, bis amerikanische Soldaten sie am 18. April erreichten. Die Marschkolonnen teilten sich unterwegs vermutlich mehrfach. Angehörige der Roten Armee befreiten die größte Gruppe am 23. April in der Nähe von Riesa. Die übrigen Frauen wurden zum Teil erst in den ersten Maitagen befreit, anderen gelang unterwegs die Flucht. Wie viele Häftlinge während des Todesmarschs ums Leben kamen, ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Nach Kriegsende setzte die HASAG die Produktion zunächst fort – statt mit Rüstungsgütern nun mit Lampen oder auch Kochtöpfen. Später enteignete die sowjetische Militäradministration das Unternehmen. Die Anlagen wurden abgebaut und abtransportiert. Von den Gebäuden blieb lediglich das ehemalige Fabrikgebäude in der heutigen Kamenzer Straße 12 in Teilen erhalten, in dem der Großteil der Frauen untergebracht war. Die Firma VVB ABUS Halle nutzte es später als Verwaltungsgebäude. Weitere Spuren der beiden Außenlager bei der HASAG gibt es nicht. 1970 ließ die VVN-BdA Leipzig in der Permoserstraße, zwei Kilometer vom historischen Standort entfernt, einen Gedenkstein für das Frauenaußenlager errichten.
Seit 2001 erinnert die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig an die Opfer des NS-Zwangsarbeitseinsatzes in Leipzig und Umgebung. Die Gedenkstätte befindet sich auf dem historischen Gelände des ehemaligen Stammwerkes der HASAG, auf dem heute ein Wissenschaftskomplex angesiedelt ist. An der Kamenzer Straße ließen die Stadt Leipzig und die Gedenkstätte für Zwangsarbeit in Leipzig im Juli 2022 eine neue Gedenkstele in Erinnerung an das Frauenaußenlager aufstellen.

Link zum heutigen Standort und zum Standort oder Gedenkstele auf GoogleMaps

Kontakt:
Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig

Gedenkstele in der Permoserstraße, 2022. Foto: Gwendoline Cicottini
Gedenkstele in der Permoserstraße, 2022. Foto: Gwendoline Cicottini ©Gedenkstätte Buchenwald

Literatur:

Anne Friebel u. Josephine Ulbricht (Hg.), Zwangsarbeit beim Rüstungskonzern HASAG. Der Werksstandort Leipzig im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte, Leipzig 2023.

Irmgard Seidel, Leipzig-Schönefeld (Frauen), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 495-500.


Mercedes Núnez Targa als Zeugin in einem Prozess in Carcassonne gegen den Franzosen René Bach, der für die Gestapo gearbeitet hatte, 27. Juli 1945
Mercedes Núnez Targa als Zeugin in einem Prozess in Carcassonne gegen den Franzosen René Bach, der für die Gestapo gearbeitet hatte, 27. Juli 1945 ©Pablo Iglesias
„Sechstausend Frauen waren wir, die bei der HASAG einen Beitrag zur Rüstungsindustrie des ‚Groẞen Reiches‘ leisten sollten. Sämtliche Nationalitäten Europas waren unter uns vertreten.“

Mercedes Núnez Targa

Mercedes Núnez Targa kam am 16. Januar 1911 in Barcelona, Spanien, zur Welt. Sie war in sozialistischen und kommunistischen Jugendorganisationen aktiv. Wegen ihres Widerstandes gegen die Franco-Diktatur wurde sie 1939 inhaftiert. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis floh sie 1942 nach Frankreich. Dort schloss sie sich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer an. Die Gestapo verhaftete sie 1944. Nach Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen und Lagern brachte die SS Mercedes Núnez Targa im September 1944 aus Ravensbrück nach Leipzig-Schönefeld. Bei der Räumung des Lagers blieb sie schwerkrank zurück. Nach der Befreiung lebte sie wieder in Frankreich. Erst nach dem Tod des spanischen Diktators Franco kehrte sie 1975 nach Spanien zurück. Mercedes Núnez Targa starb 1986 in Vigo.



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