Bertrand Herz

(1930-2021)

Bertrand Herz (Mitte) mit seinem Bruder Jean-Claude (1926-2016), seiner Schwester Françoise (1924-2014) und seinem Vater Willy (1883-1945), um 1938
Bertrand Herz (Mitte) mit seinem Bruder Jean-Claude (1926-2016), seiner Schwester Françoise (1924-2014) und seinem Vater Willy (1883-1945), um 1938 ©Familie Herz

Bertrand Herz wurde am 24. April 1930 in Paris als jüngstes von drei Kindern geboren. Wegen ihrer jüdischen Herkunft floh die Familie 1942 in das südfranzösische Toulouse. Im Juli 1944 geriet sie in die Fänge der Gestapo. Den vierzehnjährigen Bertrand deportierte die Gestapo mit seinem Vater Willy im August 1944 nach Buchenwald. Seine Mutter Louise und seine Schwester Françoise kamen in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Vater und Sohn brachte die SS im Dezember 1944 nach Niederorschel, wo Willy Herz im Januar an Entkräftung starb. Bertrand überlebte das Außenlager und den Marsch nach Buchenwald. Zurück in Frankreich erfuhr er vom Tode seiner Mutter. Seine Schwester und sein Bruder hatten den Krieg überlebt. Später machte er als Ingenieur Karriere und engagierte sich in Überlebendenverbänden. Viele Jahre war er Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos. Er starb 2021 in Paris.





„Ich sehe mich in einer groẞen Halle auf einem kleinen Hocker vor einer Seite dieser riesigen Tragfläche aus Metall stehen und Schrauben festdrehen.“

Aus den Erinnerungen von Bertrand Herz

Niederorschel
„Hier gibt es keine Baracken und speziellen Industriegebäude, sondern nur die Werkstatt einer alten Spinnerei und einer alten Sperrholzfabrik, die […] sich am nördlichen Ende des kleinen Ortes Niederorschel ganz in der Nähe der letzten Häuser befinden. Die Nazis haben dort Werkstätten und Unterkünfte für die Häftlinge eingerichtet und alles mit Stacheldraht umzäunt. Von der Unterkunft bis in die große Montagehalle, in der ich arbeite, sind es ca. 100 Meter [...].
Wir schlafen nicht mehr in den schrecklichen […] ‚Kaninchenställen‘ des Kleinen Lagers von Buchenwald, sondern in mehrstöckigen Pritschen.“

Schrauben
„Die Fabrik der Firma Langen in Niederorschel baut die Tragflächen der Junkers-Flugzeuge zusammen. Ich sehe mich in einer großen Halle auf einem kleinen Hocker vor einer Seite dieser riesigen Tragfläche aus Metall stehen und Schrauben festdrehen. [...]
Ich arbeite 12 Stunden jeden Tag und 6 Stunden am Sonntag. Und ich habe mich immer gefragt, woran ich wohl gedacht haben könnte 78 Stunden in der Woche bei meinen Schrauben (wie viele Schrauben hat eine Junker-Tragfläche?), mit Ausnahme der kurzen Pausen, in denen ich immer sofort erschöpft auf meinem kleinen Hocker einschlief und träumte.“

Bewacher
„Der SS-Mann, der diesem kleinen Kommando mit einigen hundert Häftlingen vorsteht, lässt uns manchmal in einem Hof antreten, um uns Dinge zuzuschreien […]. Kurz vor der Evakuierung hält er eine besonders hitzige Ansprache. Hauptsächlich verspricht uns der SS-Kommandant, dass die Amerikaner zwar kommen werden, aber dass wir alle tot sein würden, bevor wir befreit würden. Alle Häftlinge, die ja fast durchgehend Juden sind, nennen ihn wegen seiner Hakennase ‚Rebekka‘. Er beeindruckt mich trotz seines mächtigen Geschreis nicht […].
Wir waren der SS ausgeliefert, die niemanden um Erlaubnis fragen musste, wenn sie uns alle umbringen wollte. Aber wir hatten keine Angst.“

Infektionen
„Eines Tages verursacht ein Stahlsplitter, der von einer Maschine fällt, am Zeigefinger meiner linken Hand eine leichte Verletzung. […] Dieser kleine Kratzer hat sich in eine Wunde verwandelt, die fast den ganzen Finger bedeckte. [...] Diese Wunde stank jedenfalls und hat Wochen gebraucht, um zu heilen. Ich wurde im Revier behandelt, wo der Verband aus Papier bestand. […] Ich erinnerte mich, dass ich Angst hatte zu sterben, so sehr war ich über den Gestank des Fingers entsetzt. […]
Aber einige Kameraden haben viel Schlimmeres durchgemacht. Eines Tages ging ich in das Revier, wo Dr. Odic oder sein Helfer Bernard Laîné gerade einen Kameraden behandelte, von dem ich nur den Rücken sah. Dort befand sich genau in der Mitte eine Wunde, ein blutiges Loch von der Größe einer Mandarine. Ich werde diesen Anblick nie vergessen.“

Marsch nach Buchenwald
„Der Marsch beginnt normal, wird aber im Verlauf der Nacht und des frühen 2. April zum Albtraum. Wir sind seit 15 Stunden unterwegs, ohne einmal angehalten zu haben. Wenn man sich vorstellt, dass ich mit Holzpantinen laufe, dass ich seit acht Monaten unterernährt bin, dass dieser Milzbrand am Finger gerade erst verheilt ist und dass ich fürchterlichen Durchfall habe [...], dann wird man verstehen, dass ich genau an diesem Tag nicht mehr daran glaube, meine Heimat je wiederzusehen. […]
Am 3. April ruhen wir einen Tag lang aus, und als wir am Abend aufbrechen, werde ich zusammen mit anderen Kameraden auf einen Pferdewagen gehoben. Ich fahre im weiteren Verlauf immer wieder auf dem Wagen mit und lege kurze Strecken zu Fuß zurück. Wir bleiben oft stehen [...]. Wahrscheinlich haben wir die größte Strecke der 80 Kilometer in den ersten beiden Tagen zurückgelegt, nach denen ich mich dem Tode nahe fühlte. Dann trödelt die Kolonne acht Tage lang. Was ist passiert, dass die deutschen Bewacher den Marsch verlangsamten [...]?“

Aus: Bertrand Herz, Der Tod war überall. Ein Überlebender berichtet, Weimar 2016 [Paris 2015], S. 86 ff.