Niederorschel

6. September 1944 – 1. April 1945

Das Lager

In der Gemeinde Niederorschel im nordwestlichen thüringischen Eichsfeld richtete die Junkers Flugzeug- und Motorenwerk AG im Herbst 1944 einen Zweigbetrieb für den Bau von Flugzeugtragflächen ein. Die Ortschaft war für die Produktion ideal: Sie lag verkehrsgünstig an der Bahnstrecke Halle-Kassel und die vorhandenen Industrieanlagen konnten angemietet werden. Das zweigeteilte Werks- und Lagerareal befand sich am nördlichen Ortsausgang in der Nähe des Bahnhofs und direkt an der Landstraße nach Gernrode. Unterhalb der Bahntrasse brachte die SS die KZ-Häftlinge in dem Websaal einer Textilfabrik, der Mechanischen Weberei AG, unter. Dieser war in Stuben unterteilt und rudimentär mit dreistöckigen Pritschen und Waschmöglichkeiten ausgestattet worden. Ein angrenzendes Gebäude diente als Unterkunft für die SS -Wachmannschaften. Zudem gab es einen Appellplatz und ein Krankenrevier. Eine Holzbaracke fungierte als Kantine. Unmittelbar an den Lagerbereich grenzten die drei Rundbogenhallen des Sperrholzwerkes Hermann Becher, von denen zwei für die Junkersproduktion genutzt wurden. Das Lager und der Arbeitsbereich waren mit elektrisch geladenem Stacheldraht eingefasst und durch einen ebenfalls umzäunten Korridor miteinander verbunden.

Das Betriebsgelände der Firma Eichsfelder Sperrholzwerk Hermann Becher, zwischen 1939 und 1944.
Das Betriebsgelände der Firma Eichsfelder Sperrholzwerk Hermann Becher, zwischen 1939 und 1944. In den rechten zwei Rundbogenhallen arbeiteten die Häftlinge. Die dritte Halle nutzte das Sperrholzwerk. ©Sammlung Wolfgang Große

Die Häftlinge

Am 4. September 1944 brachte die SS ein Vorkommando von 100 Häftlingen aus Buchenwald für die Einrichtung des Lagers nach Niederorschel. Es waren als politische Häftlinge eingestufte Männer. Über die Hälfte von ihnen stammte aus der Sowjetunion, die übrigen aus Polen, der Tschechoslowakei, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und Jugoslawien. Als Lagerältesten setzte die SS den langjährigen deutschen Häftling Otto Herrmann aus Halle an der Saale ein. Anfang Oktober überstellte die SS 200 jüdische Häftlinge von Buchenwald nach Niederorschel, von denen viele zuvor das KZ Riga-Kaiserwald oder Zwangsarbeitslager im polnischen Skarżysko-Kamienna und Kielce durchlaufen hatten. Im gleichen Monat folgten 282 mehrheitlich slowakische und polnische Juden aus Auschwitz. Mitte Dezember 1944 schließlich trafen weitere 150 jüdische Häftlinge aus Buchenwald in Niederorschel ein – viele von ihnen Überlebende der jüdischen Gemeinde in Budapest. Da in Niederorschel jüdische und nicht-jüdische Häftlinge eingesetzt wurden, führte die Buchenwalder Lagerverwaltung das Außenlager als „gemischtes Männerkommando“. Insgesamt hielt die SS über 730 Männer im Lager gefangen; rund ein Fünftel von ihnen war unter 20 Jahren alt.

„Ich sehe mich in einer groẞen Halle auf einem kleinen Hocker vor einer Seite dieser riesigen Tragfläche aus Metall stehen und Schrauben festdrehen.“
Bertrand Herz
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Der Zweigbetrieb des Junkerskonzerns in Niederorschel trug die Bezeichnung „Langenwerke AG, Betrieb Niederorschel“ und war spezialisiert auf die Fertigung von Tragflächen für das Focke-Wulf-Jagdflugzeug FW 190. Ein weiteres Werk unterhielt die Langenwerke AG in Langensalza, in dem ebenfalls KZ-Häftlinge zum Einsatz kamen. Angeleitet von Zivilangestellten mussten die Häftlinge in Niederorschel Duraluminiumbleche zuschneiden, bohren und vernieten sowie die Fahrwerke einbauen (Halle 1) und mit Elektroinstallationen versehen (Halle 2). Teile für den Start- und Landemechanismus wurden in einer Schlosserei produziert. Zunächst gab es von montags bis samstags 12-stündige Tag- und Nachtschichten. Ende Januar 1945 stellte die Werksleitung die Nachtschicht ein, vermutlich wegen Materialmangels. An Sonntagen arbeiteten die Häftlinge in verkürzter Form. Lediglich eine kleine Gruppe von Häftlingen erkannte die Werksleitung ab Mitte Dezember 1944 als Facharbeiter an. Alle übrigen galten als Hilfsarbeiter. Keine der hergestellten Tragflächen gelangte zur Endmontage.

Krankheit und Tod

Die Krankenstation des Lagers bestand aus einer Ambulanz und einem Dutzend Betten für die Schwerkranken. Als Häftlingsärzte setzte die SS die Mediziner Charles Odic aus Paris und Bela Neufeld aus dem ungarischen Nagyszőlős (dem heutigen Wynohradiw in der Ukraine) ein. Ein Häftlingspfleger unterstützte sie. Der SS-Sanitäter Unterscharführer Arzt, der ebenso für die Außenlager in Mühlhausen verantwortlich war, beaufsichtigte sie. Die Häftlinge litten unter Durchfallerkrankungen, Eiterbeulen, Abszessen und Phlegmonen. Der 51-jährige Samu Gal aus dem siebenbürgischen Bánffyhunyad war der erste Tote. Entkräftet durch eine Darmentzündung, erlag er am 27. Oktober 1944 einer Herzschwäche. Bis zur Räumung des Lagers starben nachweislich 20 Häftlinge. Als Todesursache wurde hauptsächlich Herz-Kreislauf-Versagen angeführt. Die Toten ließ die SS im städtischen Krematorium in Mühlhausen einäschern und die Urnen größtenteils auf dem Neuen Friedhof in Mühlhausen beisetzen.

Schreiben des Außenlagers Niederorschel an die Verwaltung des KZ Buchenwald, 26. Januar 1945
Schreiben des Außenlagers Niederorschel an die Verwaltung des KZ Buchenwald, 26. Januar 1945. Für die Einäscherung eines toten Häftlings stellte die Stadt Mühlhausen der SS 73,62 Reichsmark in Rechnung. ©Arolsen Archives

Bewachung

Mit dem Anstieg der Zahl der Häftlinge wuchs auch die Wachmannschaft in Niederorschel. Anfangs umfasste sie 20 SS-Männer, im März 1945 waren schließlich 43 SS-Männer im Außenlager Niederorschel tätig. Vielfach handelte es sich um ältere Wehrmachtssoldaten, die zum Wachdienst in den Konzentrationslagern zur SS überstellt worden waren. Als Kommandoführer setzte die Buchenwalder Lagerführung SS-Hauptscharführer Hans Masorsky ein. Der 1891 in Flensburg geborene Masorsky war ein ehemaliger Land- und Industriearbeiter und langjähriges NSDAP-Mitglied. Seit 1939 stand er im KZ-Dienst. Aus dem KZ Lublin-Majdanek war er 1942 nach Buchenwald versetzt worden, wo er unter anderem als zeitweiliger Kommandoführer im Außenlager in Goslar fungierte. Überlebende des Außenlagers Niederorschel charakterisierten ihn später als aufbrausend und gewalttätig. Wegen seines Dienstes im KZ Lublin-Majdanek verurteilte ihn ein polnisches Gericht 1948 zu acht Jahren Haft. Strafrechtliche Verurteilungen wegen Verbrechen in Niederorschel sind nicht bekannt.

Räumung

Aufgrund des Rückgangs der Produktion brachte die SS bereits Mitte Februar 1945 135 Häftlinge aus Niederorschel in das Außenlager Langenstein-Zwieberge. Als Ende März 1945 der Befehl eintraf, das Lager zu räumen, befanden sich noch über 520 Häftlinge in Niederorschel. Am Abend des 1. April, Ostersonntag, verließen die Häftlinge das Lager, um zu Fuß in das rund 100 Kilometer entfernte KZ Buchenwald zu marschieren. In den Wirren des Aufbruchs gelang es einigen Häftlingen – unterstützt durch Einwohnerinnen und Einwohner –, zu fliehen und sich zu verstecken. Nachdem Dörfer und Städte wie Eberleben, Greußen und Sömmerda passiert wurden, legte die SS im geräumten Außenlager Berlstedt nahe Buchenwald für mehrere Tage eine Marschpause ein. Berichten zufolge war es dem Lagerältesten Otto Hermann gelungen, die SS hierzu zu überreden. Am Abend des 10. April registrierte die Buchenwalder SS 425 aus Niederorschel eintreffende Häftlinge. Der Aufenthalt in Berlstedt hatte sie davor bewahrt, aus Buchenwald auf einen weiteren Todesmarsch geschickt zu werden. Wie viele Häftlinge auf dem Weg nach Buchenwald umkamen oder fliehen konnten, ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Überreste des Außenlagers wie die Produktionshallen oder die ehemalige Häftlingskantine sind heute noch vorhanden. Die ehemalige Weberei wurde 2007 vollständig abgetragen. Seit 1965 erinnert ein Gedenkstein auf dem einstigen Appellplatz an der Bahnhofstraße an das Außenlager. 1975 wurde er zu einem Ehrenhain für (kommunistische) Widerstandskämpfer erweitert. Nach der Kritik von Überlebenden brachte man 1996 eine neue Inschrift an und ergänzte 2002 eine Tafel mit den Namen der in Niederorschel Gestorbenen. Im gleichen Jahr wurde eine bis heute zugängliche Heimatstube mit einer Ausstellung über das Außenlager eröffnet. Auf dem Neuen Friedhof in Mühlhausen erinnern heute Gedenksteine an die dort beigesetzten Toten des Außenlagers Niederorschel.

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Link zum Standort der Heimatstube auf GoogleMaps
Link zum Standort des Neuen Friedhofes auf GoogleMaps

Kontakt:
Heimatstube Niederorschel

Literatur:

Wolfgang Große, Aus dem Umkreis der Kamine. Überlebende eines KZ-Außenlagers berichten, Duderstadt 2009.


Bertrand Herz (Mitte) mit seinem Bruder Jean-Claude (1926-2016), seiner Schwester Françoise (1924-2014) und seinem Vater Willy (1883-1945), um 1938
Bertrand Herz (Mitte) mit seinem Bruder Jean-Claude (1926-2016), seiner Schwester Françoise (1924-2014) und seinem Vater Willy (1883-1945), um 1938 ©Familie Herz
„Ich sehe mich in einer groẞen Halle auf einem kleinen Hocker vor einer Seite dieser riesigen Tragfläche aus Metall stehen und Schrauben festdrehen.“

Bertrand Herz

Bertrand Herz wurde am 24. April 1930 in Paris als jüngstes von drei Kindern geboren. Wegen ihrer jüdischen Herkunft floh die Familie 1942 in das südfranzösische Toulouse. Im Juli 1944 geriet sie in die Fänge der Gestapo. Den vierzehnjährigen Bertrand deportierte die Gestapo mit seinem Vater Willy im August 1944 nach Buchenwald. Seine Mutter Louise und seine Schwester Françoise kamen in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Vater und Sohn brachte die SS im Dezember 1944 nach Niederorschel, wo Willy Herz im Januar an Entkräftung starb. Bertrand überlebte das Außenlager und den Marsch nach Buchenwald. Zurück in Frankreich erfuhr er vom Tode seiner Mutter. Seine Schwester und sein Bruder hatten den Krieg überlebt. Später machte er als Ingenieur Karriere und engagierte sich in Überlebendenverbänden. Viele Jahre war er Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos. Er starb 2021 in Paris.



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