
Michel Fliecx wurde am 25. März 1925 in Metz im Osten Frankreichs geboren. Als Student schloss er sich 1941 der Widerstandsgruppe Vengeance an. Die Gestapo verhaftete ihn im April 1943 in Evreux und deportierte ihn zwei Monate später nach Buchenwald. Über Peenemünde kam er im Oktober in das Außenlager Dora. Bis zum Ende seiner Kräfte musste er in den Stollen im Kohnstein arbeiten. Im April 1944 schob die SS ihn mit anderen Todkranken zum Sterben in das KZ Bergen-Belsen ab. Er zählte zu den wenigen Überlebenden. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schrieb er auf Bitten seines Vaters einen Bericht über seine Zeit in den Lagern. Über sein Leben danach ist wenig bekannt. Michel Fliecx erhielt verschiedene Ehrungen. Er starb 2007 in Nizza.
Aus den Erinnerungen von Michel Fliecx
Ankunft in Dora
„Ach, dieser erste Anblick des Tunnels von Dora! Trotz all der Zeit bleibt das Bild genauso präzise in meiner Erinnerung eingeprägt.
Dieses riesige Tor, das Hunderte, ja Tausende von Männern in Fünferreihen verschlingt, aschfahl, schmutzig, mit ausdrucksleeren Gesichtern, alle in grau-blau gestreiften Anzügen, zum Geräusch der Holzpantinen, die im Gleichschritt auf dem Boden dröhnen. Im Inneren dringt der Tunnel in den Berg vor. In großen Abständen leuchten schwache Glühbirnen und lassen die tödliche Feuchtigkeit glänzen, die aus den Wänden sickert. Hinter einer breiten Kurve bleibe ich in der Menge hängen, denn ein Querstollen öffnet sich. Er bietet den Anblick einer Röhre von 20 Metern Durchmesser. Er ist noch nicht bis zur halben Höhe aufgefüllt wie derjenige, in dem ich im Augenblick bin, und hinuntersteigern müssen wir über eine schmale Leiter, an der man sich nur jeweils zu zweit einander gegenüber halten kann. Es ist ein albtraumartiges Schauspiel: die Reihe von winzigen Larven, die sich, so weit das Auge reicht, fortbewegen und dort unten im Dunkel verschwinden, im Staub und Rauch dieses riesigen Stollens, der vom gelben Licht der Glühbirnen nur spärlich beleuchtet ist. Sind wir in der Vor- und Frühgeschichte oder in einem Buch von Jules Verne?“
Die „Schlafstollen“
„Bei einem Block denkt man im Allgemeinen an eine Holzbaracke, in die 300 bis 400 Menschen passen. Ein Block im Tunnel von Dora ist aber ein ganzer Stollen, 200 Meter Stollen im Fels. Da drinnen leben, leiden und sterben 1500 bis 2000 Häftlinge. Wir sind in riesigen vierstöckigen ‚Boxen‘ untergebracht, die auf ihren dünnen Gerüsten schwanken. Deshalb sind immer zwei aneinandergerückt. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass eine zusammenbricht und dabei einige Schlafende erdrückt.
Hier ist immer noch ein schönes Durcheinander. Man braucht unglaubliche Tricks, um an seine Essensrationen zu kommen. Die Altgedienten machen damit ihr Geschäft. Manche haben anfangs Dutzende von Rationen ‚organisiert‘.
Am ersten Tag – Abend möchte ich nicht sagen, denn im Tunnel von Dora sieht man nicht, wie sich der Himmel ändert – frage ich mich, wie man es schaffen soll, zu schlafen. Es herrscht höllischer Krach: Die Chefs der ,Boxen‘ rufen mit Gebrüll zur Versammlung für die Essensausgabe, die Kapos schreien sich heiser mit ihrem ‚Aufstehen‘ oder ,stavaitsch‘ [,erhebt euch‘], je nach ihrer Nationalität; auf dem Boden wird zügellos auf Brotdiebe Jagd gemacht; die entsetzlichen Schreie der Kerle, die 25 Stockhiebe bekommen; ein und dieselbe Strafe für alle kleinen oder großen Vergehen; die Streitereien um Platz in den Boxen, um geklauten Decken und verschwundene Pantinenpaare. Und über all diesem noch das ohrenbetäubende Geräusch der Dynamitexplosionen, mit denen neue Stollen angelegt werden, das blecherne Scheppern der Presslufthämmer, die lauten Zusammenstöße der Loren im Tunnel – denn nur einige Planen am Eingang zum Block trennen uns vom Tunnel –, und das geht so vierundzwanzig Stunden lang. Das hier übertrifft an Schrecklichem und Schmutzigem bei Weitem selbst die anrüchigsten Viertel von Bettlern und Dieben.“
Arbeiten im Stollen
„Eine Stunde vor Arbeitsbeginn werden wir mit lauten Schreien geweckt. Die Stubenältesten gehen durch den Block und prügeln rechts und links auf die Unglücklichen ein, die sich mühsam aus ihren Waben herausquälen, einer mit dem Kopf, einer mit dem Hintern voraus. Wir sind noch schlaftrunken, und in diesem Augenblick macht sich die Müdigkeit am schmerzlichsten bemerkbar. In diesen Augenblicken denke ich nicht an das breite Bett zuhause, sondern nur an diesen elenden Strohsack, auf dem ich mich wieder ausstrecken möchte und schlafen, schlafen; nicht länger meine schmerzenden Beine spüren, meine geschwollenen Lider und diese Sorte Kopfweh, die der Schlafmangel verursacht. Abgestumpft machen wir uns mit schwerem Kopf auf den Weg zu unserem Arbeitsort. Ein kurzer Appell, dann lösen wir die zweite Schicht ab. Wir nehmen die trübsinnige Arbeit wieder auf und schaufeln mechanisch Zement oder Kies. Das erfordert zumindest keine geistige Anstrengung, und ich kann in aller Ruhe meinen Vorhaben nachträumen. Während der ersten Stunden ist die Temperatur noch auszuhalten, aber nach der halben Zeit beginnt sich die Kälte bemerkbar zu machen. Wir müssen uns mehr bewegen, um wieder warm zu werden.
Zwischen unsere dünne Pelle aus Holzfaser und unseren mageren Körper ziehen wir eine Schicht aus leeren Zementsäcken an; mit Löchern oben, rechts und links ergibt sich eine prima Weste und ist sogar ziemlich warm. Nur ist es verboten. Warum? Keine Ahnung. Dieses Papier wird niemals wieder verwendet und ist für die Müllwagen bestimmt.“
Aus: Michel Fliecx, Vom Vergehen der Hoffnung: zwei Jahre in Buchenwald, Peenemünde, Dora, Belsen, Göttingen 2013 [Évreux 1947], S. 103 ff. (Aus dem Französischen von Monika Gödecke)