Jean Giroud

(1926-2010)

Jean Giroud, 1956
Jean Giroud, 1956 ©Archives départementales de l’Isère, cote 8099W 102/2

Jean Giroud wurde am 26. November 1926 im französischen Le Pont-de-Claix bei Grenoble geboren. Kurz vor seinem 17. Geburtstag nahm der gelernte Elektriker am 11. November 1943 in Grenoble an einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs teil. Die deutschen Besatzer lösten die Veranstaltung auf und verhafteten die Teilnehmer. Wie alle anderen Opfer der Razzia kam Jean Giroud über das Durchgangslager in Compiègne im Januar 1944 nach Buchenwald. Er musste in verschiedenen Arbeitskommandos arbeiten. Aus dem Außenlager Schönebeck gelangte er im Dezember 1944 nach Westeregeln. Er überlebte den Todesmarsch und kehrte nach Frankreich zurück. Jean Giroud starb 2010 in Fontaine.





„wir sind mit einem Fahrstuhl […] in eine ehemalige Salzmine mit sehr groẞen Stollen, in denen sogar ein Lastwagen fahren konnte, drei Etagen tief eingefahren.“

Aus den Erinnerungen von Jean Giroud

Tarthun
„Nach diesem kurzen Aufenthalt in Schönebeck, ich erinnere mich nicht mehr wie lange, fuhren wir ab, und nach einer nicht sehr langen Reise kamen wir aufs flache Land in ein kleines, noch unfertiges Lager, bei eisiger Kälte, und dieses Lager, Irrtum ausgeschlossen, hatte den Namen ‚Tarthun‘. Sogleich wurden Kameraden gezwungen, draußen zu bleiben, um den Stacheldraht entlang der Wachtürme zu ziehen. Die Wächter sind ehemalige Soldaten der Wehrmacht, in die SS eingegliedert.

Am folgenden Tag Ausmarsch zum Arbeitsort. Appell auf Appell nach einem Marsch von ca. einem Kilometer. Wie kommen zu Fuß in einer großen Folterhöhle an, ähnlich den Minen des Nordens, und wir sind mit einem Fahrstuhl […] in eine ehemalige Salzmine mit sehr großen Stollen, in denen sogar ein Lastwagen fahren konnte, drei Etagen tief eingefahren. Der Stollen mündete in eine riesige, hohe Halle, in der an einer Montagekette Flugzeugmotoren gebaut wurden. Unter uns waren einige deutsche Zivilisten. Bei Alarm leuchtete an der Außenseite der Eingangshalle eine rote Lampe. Es gab oft Alarm, denn Magdeburg war nicht weit. Sehr oft erschütterten während der Arbeit Explosionen die Luft, und Staub durchzog die Halle. Die Explosionen stammten aus 800 Meter Tiefe, das heißt 300 Meter tiefer als wir waren, wo die russischen Kriegsgefangenen beschäftigt waren, um noch das Salz abzubauen. Wir glaubten sie oft in der Nähe des Fahrstuhls.“

Todesmarsch
„Dann sind wir, wenn meine Erinnerungen richtig sind, im Laufe des April zurück nach Schönebeck, wo eine große Evakuierung erfolgte oder eher teilweise, denn mehrere Male haben wir, total übermüdet, die Ordnung gestört und mussten zurück in die Baracken. Dann endlich, unter Gefahr, von der SS eingekesselt zu werden, setzte sich die Kolonne in Bewegung. Wir hörten fern von Magdeburg den Lärm der Kanonen und der Fahrzeuge der Alliierten. Zwischen dem Lager und der Elbe gelang es einigen Deportierten der Kolonne zu entkommen. Viele wurden von SS-Bewachern erschlagen, andere wieder erwischt, und einigen unter uns gelang es, sich in Gräben zu verstecken. Sie wurden am nächsten Tag von den Alliierten befreit. Nachdem die Kolonne die Elbe überquert hatte, haben die Deutschen in der Nacht die Brücke in die Luft gesprengt, um den Vormarsch der Alliierten zu verlangsamen. Unsere Kolonne war umringt von SS mit Maschinenpistolen oder Mausern unter dem Arm. Wir wurden begleitet von scharfem Schreien und auch mit Fußtritten, um uns schneller voranzutreiben. Und all dies bis zum Tagesanbruch, wo wir in einem Nadelwald versteckt wurden.

Dieser Marsch hat 3 Wochen gedauert und das praktisch ohne Nahrung, nur 1 Stück Brot und Ersatzmargarine. Es war Frühling, eine Kartoffel war schnell herausgezogen aus der Feldfurche oder vom Wegesrand, alles natürlich mit dem Risiko des Lebens. Übrigens wurden einige von uns für diesen Diebstahl geschlagen, man musste flink sein, um die Kolonne zu verlassen. Im Verlauf einiger Tage mussten einige wegen der Schläge langsamer gehen, sie waren am Ende ihrer Kraft, sie fielen einmal, zweimal, dann blieben sie am Wege liegen. Der Marsch ging weiter, und einige Augenblicke später hörten wir einen Schuss. Wir verstanden, was passierte. Wir sind gelaufen, meiner Erinnerung nach durch Solingen [Anm.: unklar, welcher Ort gemeint ist], Potsdam, Parchim, wo die russischen und amerikanischen Geschützkugeln fielen. Unsere Kolonne marschierte 20 Tage praktisch nur in der Nacht. Eines Tages wurden wir in einen Bretterschuppen eingesperrt auf dem Flachland. Auf dem Zementsockel dieses Gebäudes haben die SS-Bewacher Eisenbehälter installiert und zielten mit Gewehren auf diese Zielscheiben. Dabei durchdrangen Schüsse die schmalen Bohlen. Im Inneren wurden mehrere Deportierte von diesen Geschossen getroffen. Zwei oder drei wurden getötet. Die Nächte waren sehr frisch, und wir hatten jeder nur eine einfache und kurze Decke. Ohne Hygiene und ohne Wasser, um sich zu waschen, kamen die Läuse schnell in unsere gestreifte Kleidung.“

Freiheit
„Auf dem Weg trafen wir Zivilisten bei der Flucht. Einige zu Fuß, andere im Fahrzeug und viele mit Wagen, gezogen von Pferden. Ein Teil wandte sich gegen Westen, die anderen Richtung Osten. Der Weg war schlecht, die Bombenlöcher oft unzureichend aufgefüllt. Schlecht und gemächlich ging der Marsch und fuhren die Fahrzeuge der deutschen Armee. Sie wurden von den vielen Hindernissen traktiert. […] Eines Abends wurden wir nach dem ermüdenden Marsch in einen Wald getrieben. Überall gab es Soldaten. Man sah Feuer, Schriftstücke verbrannten. Junge SS-Männer haben ein Amphibienfahrzeug mit Büchern und Munition angebrannt, das gab eine Explosion und einen gewaltigen Schein. Zu Tode erschöpft, haben wir gleich auf dem Boden geschlafen, umringt von SS-Wächtern, wie übrigens immer in dieser Zeit. Am Morgen beim Erwachen große Stille, große Leere. Unsere Wächter waren verschwunden. Die Wächter, besonders die Chefs, hatten ihre SS-Uniformen dagelassen und sind ohne Zweifel in Zivilkleidern fortgegangen. Wir waren frei.“

Aus: Erinnerungsbericht Jean Giroud, Le Serment, Nr. 161 (September-Oktober 1983). (Übersetzung aus dem Französischen)