Westeregeln

31. Oktober 1944 – 11. April 1945

Das Lager

Mitte September 1944 beantragte Fritz Gößling, technischer Leiter der Flugzeugfertigung der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG im Werk Schönebeck bei der SS, ein KZ-Außenlager in Westeregeln, südlich von Magdeburg, einzurichten. In dem bestehenden Salzschacht Westeregeln IV, zwischen den Orten Egeln und Tarthun gelegen, sollte eine unterirdische Fabrik für die Serienproduktion des „Volksjägers“ He 162 entstehen, eines neuen Jagdflugzeugs mit Strahltriebwerk. Die Unterbringung der ersten, Ende Oktober 1944 eintreffenden Häftlinge erfolgte vor Ort noch provisorisch. Ende Dezember wurde ein Barackenlager in der Nähe des Schachtes fertiggestellt und mit Stacheldraht umzäunt. Es befand sich vermutlich am westlichen Ortsausgang von Tarthun. Das Lager Westeregeln war eng mit dem Junkers-Außenlager in Schönebeck verbunden, das auch die Verwaltung und Verpflegung des Lagers übernahm. Die SS-Lagerverwaltung führte das Lager in Westeregeln unter dem Tarnnamen „Maulwurf“ oder den Ortsnamen Tarthun und Westeregeln.

Die Häftlinge

Die ersten 50 Häftlinge, mit denen am 31. Oktober 1944 das neue Lager gegründet wurde, kamen aus Buchenwald. Es waren vornehmlich Handwerker und deutsche Häftlinge, die vor Ort als Funktionshäftlinge eingesetzt wurden. Einen von ihnen, den deutschen Kommunisten Josef Brambor, machte die SS zum Lagerältesten. Weitere Männer trafen in den folgenden Wochen aus dem Junkers-Außenlager in Schönebeck ein. Mit Beginn der Produktion im Februar 1945 stieg die Zahl der Häftlinge auf 575 an. Insgesamt durchliefen zwischen Oktober 1944 und April 1945 mehr als 600 Männer das Außenlager „Maulwurf“. Die meisten von ihnen waren als politische Gefangene eingestuft worden. Sie stammten aus Polen, der Sowjetunion, Belgien, Jugoslawien, Italien, den Niederlanden, Frankreich, der Tschechoslowakei oder dem damaligen Deutschen Reich. Mit einem Transport aus dem Hauptlager Buchenwald brachte die SS im Januar 1945 auch eine kleine Gruppe jüdischer Häftlinge aus Ungarn und Polen zur Zwangsarbeit nach Westeregeln.

„wir sind mit einem Fahrstuhl […] in eine ehemalige Salzmine mit sehr groẞen Stollen, in denen sogar ein Lastwagen fahren konnte, drei Etagen tief eingefahren.“
Jean Giroud
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Bis zum Jahresende 1944 wurden täglich 50, im Januar 1945 über 300 Häftlinge zum Einbau der Produktionsanlagen in den unterirdischen Salzschächten eingesetzt. Obwohl sie mehrheitlich als Facharbeiter ausgesucht worden waren, leisteten sie in erster Linie Hilfsarbeiten. Ein Teil erhielt Schwerarbeiterzulagen bei der Verpflegung. Es gab Unfälle, auch einen mit Todesfolge. Die Häftlinge mussten ohne Wochenenden durcharbeiten, täglich 11 Stunden. Spätestens ab Februar 1945 erfolgte der Einsatz in der Produktion der Salzwerke Westeregeln G.m.b.H, so der Deckname des unterirdischen Junkers-Flugzeugwerks. Zumindest zeitweise arbeiteten die Häftlinge in Tag- und Nachtschichten bei der Montage der Flugzeugkörper, einige hundert Meter unter der Erde.

Krankheit und Tod

Die Kranken des Außenlagers wurden in der Regel im Junkers-Außenlager in Schönebeck behandelt, zum Teil von dort auch in das Hauptlager Buchenwald gebracht. Ende 1944 scheint in Tarthun eine kleine Krankenstation mit einem Häftlingspfleger eingerichtet worden zu sein – unter der Aufsicht eines SS-Sanitäters. Vermutlich weil die Zahl der Kranken vor Ort stetig stieg, setzte die SS Anfang März 1945 den tschechischen Medizinstudenten Norbert Každan als Häftlingsarzt ein. Zuvor war er in gleicher Funktion im Außenlager in Eisenach tätig gewesen. Bis Ende März 1945 sind insgesamt neun Todesfälle für das Außenlager Westeregeln belegt. Als Todesursachen wurden mehrheitlich Fleckfieber oder Lungenerkrankungen angegeben. Für die Unterzeichnung der Totenscheine war der Vertragsarzt Dr. Fink zuständig, ein Allgemeinmediziner mit Praxis im Nachbardorf Egeln.

Bewachung

Formal unterstand das Lager in Westeregeln dem Kommandoführer des Außenlagers Schönebeck, SS-Obersturmführer Gustav Borell (1898-1969). Kurzzeitig führte er auch das Kommando im Außenlager Leipzig-Thekla. Als Lagerführer vor Ort setzte er verschiedene SS-Männer ein, u.a. einen SS-Unterscharführer namens Fischer. Eindeutig belegt ist für die Endphase des Lagers SS-Oberscharführer Arno Reißig (1914-2004). Reißig trat 1934 in die SS ein und war von 1938 bis 1942 im KZ Buchenwald tätig, unter anderem als Blockführer. Als Angehöriger des sogenannten Kommandos 99 beteiligte er sich in Buchenwald an der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener. 1942 wechselte Reißig in das KZ Arbeitsdorf, 1944 als Kommandoführer in das Außenlager Duderstadt und von dort nach Westeregeln.
Die Wachmannschaft bestand anfangs aus neun und Ende März 1945 aus 39 SS-Männern. Nach Zeugenberichten waren es überwiegend von der Wehrmacht an die SS überstellte ältere Soldaten. Ermittlungen wegen Verbrechen im Außenlager Westeregeln blieben in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik ergebnislos.

Räumung

Am 10. April 1945 befanden sich noch 585 Männer vor Ort in Westeregeln. Am nächsten Tag, dem 11. April, verlegte die SS sie in das Außenlager Schönebeck. Noch am selben Tag trieb die SS sie in Kolonnen zu je 100 Mann in Richtung des KZ Sachsenhausen bei Berlin. Nur Einzelne blieben in Schönebeck zurück. Unterwegs kam es zu Fluchten. Aus Sachsenhausen wurden die Häftlinge weiter in Richtung Nordwesten geschickt, bis die Rote Armee sie Anfang Mai 1945 befreite.

Spuren und Gedenken

Die Schachtanlage wurde 1945 gesprengt und ist heute nur noch als Fischteich vorhanden. Auch vom Außenlager gibt es keine baulichen Reste. Gedenkzeichen sind vor Ort nicht vorhanden.

Literatur:

Christine Schmidt van der Zanden, Westeregeln („Maulwurf“, „Tarthun“, „MW“), in: Geoffrey P. Megargee (Hg.), The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945, Volume 1, Part A, S. 437 f.


Jean Giroud, 1956
Jean Giroud, 1956 ©Archives départementales de l’Isère, cote 8099W 102/2
„wir sind mit einem Fahrstuhl […] in eine ehemalige Salzmine mit sehr groẞen Stollen, in denen sogar ein Lastwagen fahren konnte, drei Etagen tief eingefahren.“

Jean Giroud

Jean Giroud wurde am 26. November 1926 im französischen Le Pont-de-Claix bei Grenoble geboren. Kurz vor seinem 17. Geburtstag nahm der gelernte Elektriker am 11. November 1943 in Grenoble an einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs teil. Die deutschen Besatzer lösten die Veranstaltung auf und verhafteten die Teilnehmer. Wie alle anderen Opfer der Razzia kam Jean Giroud über das Durchgangslager in Compiègne im Januar 1944 nach Buchenwald. Er musste in verschiedenen Arbeitskommandos arbeiten. Aus dem Außenlager Schönebeck gelangte er im Dezember 1944 nach Westeregeln. Er überlebte den Todesmarsch und kehrte nach Frankreich zurück. Jean Giroud starb 2010 in Fontaine.



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