Tomasz Kiryłłow wurde am 24. März 1925 in Belarus geboren. Seine Familie emigrierte 1927 nach Frankreich, kehrte 1935 jedoch nach Polen – die Heimat seiner Mutter – zurück. Die deutschen Besatzer verschleppten den 17-Jährigen 1943 als Zwangsarbeiter nach Wetzlar. Wegen Arbeitssabotage wies die Gestapo ihn im August 1943 in das KZ Buchenwald ein. Er durchlief das Außenlager in Schönebeck und kam im März 1944 mit der Baubrigade V nach Frankreich. Mit Hilfe des französischen Widerstands gelang ihm im Mai 1944 die Flucht aus dem Lager in Hesdin. Er schloss sich der Widerstandsgruppe an und kehrte nach dem Krieg nach Polen zurück. Tomasz Kiryłłow starb 1999. Die Initiative „Wetzlar Erinnert e.V.“ würdigte ihn 2017 mit einer Gedenktafel.
Aus den Erinnerungen von Tomasz Kiryłłow
Das Lager
„Wir wurden in Kavalleriekasernen, die noch aus der Zeit Napoleons stammten, untergebracht. Sie waren von einer hohen Mauer aus roten Ziegeln umgeben, die oben mit Stacheldraht versehen war. Zwei weiße Säulen bildeten den Rahmen des breiten Tores aus Eisenstangen.
Wir befanden uns in einem der Säle im ersten Stock. Er war so groß wie ein Kultursaal und hatte schmutzige, lange nicht getünchte Wände. An der Wand zwischen den Fenstern hatte ein ‚Künstler‘ mit einem Nagel die zierliche Gestalt eines nackten Mädchens mit großem Busen eingekratzt. Ich öffnete das Fenster. Die Häuser der Stadt befanden sich gleich hinter der Mauer, die die Kasernen abgrenzte. Es gab keine Betten, und wir legten uns auf den Fußboden schlafen. Nach dem Morgenappell teilten uns die SS-Leute zur Arbeit ein. Wir brachten den Platz und die Räume in Ordnung, trugen Betten in die Säle der verschiedensten Stockwerke und stopften die Säcke mit Stroh.“
Kontakt mit der Bevölkerung
„Mit einemmal geriet der Wagen ins Schleudern und blieb stehen. Reifenpanne. Der Fahrer stieg aus, um das Rad zu wechseln. Der SS-Mann sprang ebenfalls aus dem Auto. Ich schaute unter der Plane hinaus. Wir waren in irgendeinem Dorf. Auf einem in der Nähe stehenden Schild las ich ‚Filiévres‘. Der SS-Mann stand beim Chauffeur, der sich am Reifen zu schaffen machte. Ich hörte, wie er sagte:
‚Ich geh rasch zum Wirt, Eier holen. Bin gleich zurück.‘
‚Bring mir welche mit‘, sagte der Chauffeur. ‚Und denk auch an Butter und Speck.‘
Als er gegangen war, blickten wir schon mutiger aus dem Auto. Es kamen einige Dorfbewohner. Sie wunderten sich, dass die Deutschen in ‚Schlafanzügen‘ fuhren. Sicher sahen sie zum erstenmal KZ-Häftlinge.
‚Bitte etwas Brot‘, flüsterte Wladimir Rjabucha.
‚Das sind wohl Verwundete aus einem Hospital‘, sagte ein junger Franzose.
Aus dem Fenster eines Hauses blickte eine Frau.
‚Was sind das für welche?‘ fragte sie einen Nachbarn.
‚Deutsche!‘ rief er.
‚Erklär ihnen, wer wir sind‘, bat Janek Wiśniewski. ‚Ich will nicht, dass sie denken, dass ich ein Deutscher bin.‘
‚Wir sind politische Häftlinge. Wir haben Hunger. Gebt uns bitte etwas Brot‘, sagte ich. […]
‚Woher kommt ihr?‘ fragte ein alter Dorfbewohner.
‚Aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Jetzt sind wir in Hesdin, in den Kasernen von ‚La Frézelière‘.‘
‚Sie sind aus einem Konzentrationslager‘, wiederholte man angsterfüllt. Immer mehr Menschen verschwanden zwischen den Umzäunungen und kamen mit Esspaketen zurück.
‚Danke … Spassibo … Chwala …‘“
Flucht
„Die erste Woche meines Aufenthaltes im Wald war eine Entdeckung der Welt. Ich ging morgens unter dem Schutz einer Hecke mich im Wasser des Flusses Ternoise waschen. Hinter dem Gebüsch blickte ich auf eine Herde von Kühen, die auf einer Wiese weideten. Auf der anderen Seite des Flusses war eine Hühnerfarm. Solche Hühner hatte ich bei uns nie gesehen. Die Farm nahm ein großes Gelände ein und war von einem Zaun umgeben, der sich von den Wirtschaftsgebäuden bis nahe an den Fluss erstreckte. […] Ich trat jedoch niemals aus dem Dickicht hervor. Marcel Huleux brachte mir jeden Abend das Essen und trug mir ständig auf, geduldig zu warten. Madame Rose legte viele Lebensmittel in die Tasche, ich war jedoch so ausgehungert, dass ich ständig hätte essen können. Lebensmittel gab es aber in Frankreich auf Karten, und so wagte ich es nicht, um mehr Essen zu bitten. Leider war es Mai, ein Monat, in dem es noch nichts Essbares auf den Feldern gibt.
Eines Tages fragte ich Mills, was es in Hesdin Neues gäbe. Es zeigte sich, dass man die Nachforschungen in meiner Fluchtangelegenheit eingestellt hatte. Die SS war der Ansicht, dass ich mich in Hesdin oder der näheren Umgebung verborgen halte. Sie hatten nicht die Absicht, das ganze Departement zu durchsuchen. Das hieß jedoch keinesfalls, dass ich hundertprozentig sicher war.“
Aus: Tomasz Kiryłłow, „Und ihr werdet doch verlieren“: Erinnerungen eines polnischen Antifaschisten, Berlin 1985, S. 128 ff.