
Miloš Pick wurde am 16. August 1926 als Sohn einer jüdischen Familie in Libáň in der Tschechoslowakei geboren. Sein Vater besaß eine kleine Fabrik. Während des Krieges schloss er sich dem lokalen kommunistischen Widerstand an und verteilte Flugblätter. Seit Januar 1943 war er in Theresienstadt inhaftiert. Im September 1944 deportierte die SS ihn nach Auschwitz. Bei der dortigen Selektion machte er sich drei Jahre älter. Er überlebte. Einen Monat später kam er nach Meuselwitz. Auf dem Todesmarsch gelang ihm mit anderen Häftlingen die Flucht. Von seiner Familie überlebten nur er und seine Schwester. Nach dem Krieg studierte Miloš Pick Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitete für verschiedene staatliche Plankommissionen und als Publizist. Miloš Pick starb 2011.
Aus den Erinnerungen von Miloš Pick
Ankunft im Lager und Zwangsarbeit bei der HASAG
„So kamen wir nach Meuselwitz. Es war ein kleines Lager, in dem vor allem Frauen untergebracht waren, etwa 1500 bis 2000 Polinnen, die nach dem Warschauer Aufstand hergebracht worden waren. Wir waren etwa 300 Männer. Das Lager befand sich bei der Munitionsfabrik Hasag-Werke (Hugo Schneider AG), wo wir auf Automaten Flugabwehrgeschosse drehten. Die Arbeit an diesen Drehautomaten war dort am gefürchtetsten. Auf jede der vier Spindeln strömte nämlich zur Kühlung unaufhörlich Öl, das trotz der Blechhaube und der Gummischürze auch auf das Bedienungspersonal spritzte. Dabei hatten wir keine Arbeitskleidung zum Umziehen, nur unsere zerfetzte Häftlingskleidung, die ständig von Öl getränkt war, ebenso wie unsere von eiternden Furunkeln bedeckte Haut. Wir machten 12-stündige Tag- und Nachtschichten, meist aber mussten wir in der Freizeit nach der Nachtschicht noch Eisenbahnwaggons ausladen gehen. Immer, wenn wir zur Frühschicht antraten und am Lagereingang der Nachtschicht begegneten, merkten wir, wie sich die Kameraden nach der Nachtschicht buchstäblich auflösten, wie sie von Tag zu Tag dahinschwanden. Und sie konnten dasselbe an uns beobachten.
Die Maschinen, an denen wir arbeiteten, waren alte, abgenutzte Vierspindelautomaten, die schon ausgedient hatten. Selbst wenn wir uns sehr bemüht hätten, wäre es schwer gewesen, auf ihnen gute Geschosse herzustellen, denn sie waren schon in einem sehr schlechten Zustand. Bei den Geschossen wurden mit Hilfe von Messlehren neun Abmessungen kontrolliert, und alle neun sollten richtig sein. In der Halle befanden sich nur Häftlinge, deutsche Zivilarbeiterinnen, deutsche Meister und SS-Posten. Wir waren vor allem darauf bedacht, dass sich uns kein deutscher Meister näherte, dass der Automat ununterbrochen lief und der Bohrer ja nicht zerbrach, denn es sollte uns keiner zu nahekommen. Natürlich bemühten wir uns nicht, gute Geschosse herzustellen, und es zeigte sich, dass jeder nur Ausschuss erzeugte. […] Ich konnte wenigstens sicher sein, dass mit meinem Geschoss kein Flugzeug der Alliierten abgeschossen wurde.“
Luftangriffe
„Wir erlebten in Meuselwitz auch zwei Luftangriffe. Aus dem benachbarten Gefangenenlager waren nämlich zwei französische Gefangene geflohen, so dass die Alliierten wahrscheinlich wussten, dass bei uns Geschosse hergestellt wurden. Der erste Angriff, angeblich ein amerikanischer, kam bei Tag, und die Bomben fielen direkt aufs Lager statt auf die Fabrik. Im Frauenlager gab es viele Opfer, kleine Verletzungen erlitten auch einige Häftlinge in unserem Block. Als wir in den leichten Blocksteinbaracken inmitten der Munitionsfabrik am Boden lagen, kamen wir uns vor wie Fliegen auf einem Leintuch. Über dem Kopf hört man das Getöse der Motoren und wartet, ob man die Bombe noch hören wird oder nicht.
Die SS-Männer führten die Frauen in einen kleinen Park, der oberhalb des Lagers lag. Die Alliierten hatten wahrscheinlich von den Flüchtlingen erfahren, dass sich im Hang Munitionsdepots befanden, und warfen deshalb ihre Bomben vor allem auf diesen Park ab. Nach dem Angriff trugen wir Teile von verbrannten Frauenleibern in Decken fort. Ich erinnere mich, wie je sechs von uns bei Nacht im Dunkeln (das Kraftwerk war ausgebombt) zwei Decken schleppten und darin Stücke von Armen, Beinen und anderen Körperteilen, die wir vom Boden und aus den schwelenden Baumstrünken auflasen. […]
Der zweite Angriff, angeblich ein englischer, kam in der Nacht und war genauer. Im sogenannten Altwerk unserer Fabrik machte ein Lufttorpedo die ganze Halle und eine parallel dazu verlaufende Gasse dem Erdboden gleich, in der von Zivilisten bewohnte Villen standen. Bei einigen Hallen im neuen Teil der Fabrik wurde eine ganze Mauer abgerissen, aber nach einigen Tagen wurde sie durch Holzfaserplatten ersetzt, und die Arbeit ging mit Volldampf weiter.“
Aus: Miloš Pick, Verstehen und nicht vergessen: durch Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald-Meuselwitz; jüdische Schicksale in Böhmen 1938-1945, Konstanz 2000.