
Judith Schneiderman kam als Judith Rosenberg am 22. August 1928 in Rachiw in der heutigen Ukraine (damals Ungarn) als eines von acht Kindern in einer jüdischen Familie zur Welt. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühjahr 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert, wo die SS ihre Eltern und jüngsten Geschwister ermordete. Mit drei Schwestern kam Judith zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen. Eine ihrer Schwestern starb beim Luftangriff im September 1944. Judith und ihre anderen Schwestern überlebten die Lager in Gelsenkirchen und Sömmerda und den Todesmarsch. Im DP-Lager in Landsberg am Lech lernte sie den Buchenwaldüberlebenden Pinek Schneiderman kennen. Sie heirateten, gingen 1947 in die USA und gründeten eine Familie. Mit 72 Jahren schrieb Judith Schneiderman ihre Erinnerung auf. Sie starb 2018.
Aus den Erinnerungen von Judith Schneiderman
Zwangsarbeit für Rheinmetall-Borsig
„Nach den Angriffen [Anm.: auf Gelsenkirchen] brachten die Deutschen uns Überlebende in eine andere Munitionsfabrik nach Sömmerda, wo meine Aufgabe darin bestand, kleine Metallteile für Gewehre zu fertigen. […]
Eines Tages arbeitete ich an einer Maschine und formte kleine Metallringe (deren Zweck ich nie verstanden habe), als ein ziviler Vorarbeiter auf mich zukam und mich fragte, ob ich deutsch sprechen und schreiben könne.
‚Natürlich‘, antwortete ich.
‚Gut. Dann komm mit mir! Ich brauche ein Mädchen im Büro.‘
Das war ein Geschenk Gottes. Ich wurde die einzige Gefangene, die drinnen arbeitete. Ich hatte sogar meinen eigenen Schreibtisch! Meine Arbeit bestand darin, den Mädchen Arbeit zuzuteilen. Ich registrierte Zeit und Position jedes Gefangenen sowie die Menge, die sie produzierten. Ich verkehrte mit deutschen Zivilisten und war in der Lage, die Entwicklung des Krieges im Radio zu verfolgen. Der Großteil meiner Kollegen waren Antisemiten und begeisterte Anhänger Hitlers, die mich meistens geflissentlich ignorierten und meinen Schreibtisch mieden, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Es war mir egal. Ich schwebte im siebten Himmel.
In Sömmerda stellten wir 24 Stunden am Tag Munition für die Kriegsanstrengungen des Reiches her, Zivilisten arbeiteten wie die Gefangenen in Tages- und Nachtschichten. Die Nachtschicht unterschied sich für uns Gefangene hauptsächlich darin, dass die SS-Offiziere uns weniger Aufmerksamkeit schenkten als sonst, da sie herumsaßen und Karten spielten.“
Vom Essen reden
„Die Tages- und Nachtschichten wechselten sich im wöchentlichen Rhythmus ab, doch meine Schwestern und ich arbeiteten immer zusammen. Wenn wir abends frei hatten und das Licht ausgegangen war, versammelten wir Frauen uns manchmal, um Lieder zu singen, zu schwatzen und uns gegenseitig Mut zu machen. Meistens redeten wir über Speisen, die wir früher einmal gegessen, und vor allem über das Essen, das wir für den Sabbat vorbereitet hatten. Verzückt beschrieben wir detailliert, was wir gekocht hatten und wie es geduftet und geschmeckt hatte. Wir versuchten, uns gegenseitig mit Einzelheiten über Zutaten und Vorbereitung zu übertreffen. Das war einer unserer liebsten Zeitvertreibe.“
Todesmarsch
„An einem Morgen, es stellte sich heraus, dass es unser letzter Morgen in Sömmerda werden sollte, bereiteten wir uns gerade auf unsere tägliche Arbeitsroutine in der Fabrik vor, da kam Otto [Anm.: ein SS-Oberscharführer] in unsere Baracken. Der unerwartete Besuch verängstigte die Frauen; man wusste nie, was von ihm zu erwarten war.
Mit lauter, heißerer Stimme bellte er: ‚Wir verlassen das Lager. Wir werden marschieren. Jeder, der versucht wegzulaufen oder sich im Lager zu verstecken, wird auf der Stelle erschossen. Und es wird mit keinem Deutschen geredet.‘
Und so ließen wir die eine Routine für eine neue hinter uns. […] Wir bewegten uns wie blinde Mäuse und gehorchten jeglichen Befehlen. Wochenlang gingen wir in eine Richtung, um dann spontan die Richtung zu wechseln. Wenn ein amerikanisches oder russisches Flugzeug über uns hinwegflog, schrien uns die SS-Leute an, und wir ließen uns auf den Boden fallen oder zerstreuten uns am Wegesrand. Wenn ein Gefangener stehenblieb, wurde er auf der Stelle erschossen. Wir marschierten den ganzen Tag, von Dorf zu Dorf. Jede Nacht hielten wir an einem Bauernhof an, wo wir in den Ställen eingeschlossen wurden und die SS-Leute sich dann in den beschlagnahmten Häusern zurückzogen. Erschöpft freuten wir uns an der Wärme und am Geruch der Tiere sowie am kratzigen Heu. Unsere tägliche Nahrung bestand aus einer gekochten Kartoffel. Ich aß etwas davon am Abend und bewahrte mir den Rest für den Marsch am nächsten Morgen auf.“
Judith Schneiderman mit Jennifer Schneiderman, Ich sang um mein Leben. Erinnerungen an Rachov, Auschwitz und den Neubeginn in Amerika, Berlin 2013, S. 68 ff.