Staẞfurt

13. September 1944 – 11. April 1945

Das Lager

In Staßfurt, rund 40 Kilometer südlich von Magdeburg im heutigen Sachsen-Anhalt, richtete die Buchenwalder SS im September 1944 ein neues Außenlager ein. Der Grund war ein Untertageverlagerungsvorhaben mit dem Tarnnamen „Reh“. In bestehenden Salzstollen sollte unter der Leitung des Ingenieur-Büros Schlempp und der Organisation Todt eine unterirdische Fabrik für den Flugzeughersteller Heinkel entstehen. Das neue Außenlager bekam in der Buchenwalder Verwaltung den Namen „Kommando Reh Staßfurt“. Das Barackenlager befand sich auf freiem Feld zwischen den Schächten VI und VII, nördlich des Staßfurter Stadtzentrums. Es bestand aus vier Wohnbaracken und einem Sanitärgebäude und war mit einem Zaun gesichert. Der unterirdische Hauptarbeitsort der Häftlinge, Schacht VI, lag einige hundert Meter vom Lager entfernt. Ab Januar 1945 wurden Häftlinge aus dem Lager auch zur Zwangsarbeit für die Firma Wälzer & Co eingesetzt, weshalb das Außenlager bisweilen auch den Namen „Wälzer“ trug.

Blick in eine der Unterkunftsbaracken nach der Räumung des Lagers, 12. April 1945
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Blick in eine der Unterkunftsbaracken nach der Räumung des Lagers, 12. April 1945 ©Amicale des Déportés à Neu-Stassfurt
Das Barackenlager in Staßfurt nach der Räumung des Lagers, 1945
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Das Barackenlager in Staßfurt nach der Räumung des Lagers, 1945 ©Amicale des Déportés à Neu-Stassfurt
„Ich bin für ein oberirdisches Kommando bestimmt und verlasse das Grubenkommando. Wir müssen in der Nähe unseres Lagers ein zweites Lager für Häftlinge unserer Art errichten.“
Jacques Vigny
zum Tagebucheintrag

Die Häftlinge

Der erste Transport mit 500 Häftlingen traf am 13. September 1944 aus Buchenwald in Staßfurt ein. Dieser bestand fast ausschließlich aus Franzosen, die erst einen Monat zuvor nach Buchenwald deportiert worden waren. Hinzu kam ein Dutzend deutscher und polnischer Häftlinge, die die SS als Funktionshäftlinge und Vorarbeiter einsetzte. Aufgrund von krankheitsbedingten Rücküberstellungen ins Hauptlager und Todesfällen nahm die Zahl der Häftlinge in Staßfurt bis Januar 1945 ab. Am 25. Januar 1945 brachte die SS 200 polnische jüdische Häftlinge aus Buchenwald nach Staßfurt, diese hatte die Firma Wälzer & Co angefordert. Für den Einsatz bei der Firma KALAG erreichte am selben Tag ein separater Transport mit 50 sowjetischen Häftlingen aus Buchenwald das Außenlager. Im Februar wurden 25 weitere Häftlinge als Facharbeiter aus Buchenwald nach Staßfurt überstellt. Am 24. März 1945 befanden sich noch 665 Häftlinge im Lager. Drei Tage später schickte die SS für die Firma Wälzer & Co noch einmal 29 Häftlinge aus Buchenwald nach Staßfurt. In den sieben Monaten seiner Existenz durchliefen somit insgesamt mehr als 800 Häftlinge das Außenlager.

Zwangsarbeit

Mehrere Firmen beteiligten sich an dem Untertageverlagerungsvorhaben. Die meisten Häftlinge waren für das Ingenieur-Büro Schlempp bzw. die Organisation Todt tätig und für den Bau der unterirdischen Flugzeugfabrik in über 400 Meter Tiefe eingesetzt. Die Arbeit bestand hauptsächlich darin, die mit Salzblöcken verstopften Stollen in Schacht VI freizulegen, den Beton für die Einrichtung dieser Räume herzustellen und die für die Betonmischer benötigten Rohstoffe mit Loren zu transportieren. Lediglich zehn Prozent der Häftlinge galten als qualifizierte Fach- und alle anderen als leicht zu ersetzende Hilfsarbeiter. 20 Häftlinge arbeiteten in Schacht VI als Elektriker für die Firma Siemens-Schuckert. Es gab 12-stündige Tag- und Nachtschichten und keine freien Tage. Ab Januar 1945 mussten Häftlinge auch für die Firma Wälzer & Co in der Herstellung von Panzerzubehör und für die Kabel- und Leistungs-AG (KALAG) Zwangsarbeit leisten.

Krankheit und Tod

Im Sanitärgebäude, der sogenannten Waschbaracke, befand sich auch die Krankenstation des Lagers. Der als Häftlingsarzt eingesetzte Mediziner Félix Escudier aus dem südfranzösischen Marseille und ein französischer Pfleger kümmerten sich dort um die zahlreichen Kranken und Verletzten. Der SS-Oberscharführer Grosser beaufsichtigte die beiden als SS-Sanitäter. Die Totenscheine unterschrieb der als Vertragsarzt im benachbarten Löderburg niedergelassene Arzt Gustav Reins. Des Öfteren brachte die SS schwerkranke oder verletzte Häftlinge zurück ins Hauptlager Buchenwald. Insgesamt betraf dies rund 50 Männer. Mindestens 94 Häftlinge starben vor Ort in Staßfurt. Die Toten wurden Berichten zufolge bis Anfang März 1945 im Krematorium in Magdeburg eingeäschert und danach in fünf Massengräbern in der Nähe des Schachts VII in Unseburg begraben.

Von Gustav Reins, dem Vertragsarzt des Lagers, unterzeichnete ärztliche Todesbescheinigung für den jüdischen Häftling Rachmil (hier fälschlich Robert) Wloch aus dem polnischen Chmielnik, 16. März 1945. Als offizielle Todesursache wurde eine Nierenentzündung festgestellt und der Leichnam in einem der Massengräber erdbestattet.
Von Gustav Reins, dem Vertragsarzt des Lagers, unterzeichnete ärztliche Todesbescheinigung für den jüdischen Häftling Rachmil (hier fälschlich Robert) Wloch aus dem polnischen Chmielnik, 16. März 1945. Als offizielle Todesursache wurde eine Nierenentzündung festgestellt und der Leichnam in einem der Massengräber erdbestattet. ©Arolsen Archives

Bewachung

Als Kommandoführer im Außenlager Staßfurt setzte die Buchenwalder SS den SS-Sturmscharführer Karl Wagner (1896-1965) ein. Über ihn liegen keine weiteren Informationen vor. Für die Bewachung des Außenlagers waren im August 1944 30 SS-Wachposten vorgesehen. Im März 1945 bestand die Wachmannschaft vor Ort schließlich aus 49 SS-Männern. Eine Ermittlung der zentralen Stelle in Ludwigsburg wegen Tötungen von Häftlingen im Außenlager Staßfurt und auf dem Todesmarsch wurde 1976 ergebnislos eingestellt.

Räumung

Am 11. April 1945 räumte die SS das Lager. Die Wachmänner trieben die rund 700 Häftlinge zu Fuß in Richtung Tschechoslowakei. Die Kranken befanden sich auf Karren, die von Pferden gezogen wurden. Der Marsch dauerte fast vier Wochen, in denen die Häftlinge mindestens 350 Kilometer zurücklegten. Sie marschierten durch Kossa, Raitzen und Clausnitz und erreichten Annaberg im Erzgebirge am 8. Mai 1945. Dort befreite die Rote Armee sie. Berichten zufolge überlebten mindestens 131 Häftlinge den Todesmarsch nicht. Regelmäßig soll es zu Erschießungen gekommen sein. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Einige von ihnen wurden in den Dörfern entlang der Marschroute begraben.

Spuren und Gedenken

Die Toten der Massengräber in der Nähe des Schachts VII in Unseburg wurden 1947 exhumiert und die sterblichen Überreste der französischen Toten nach Frankreich überführt. Auf den Friedhöfen der Dörfer entlang der Todesmarschroute existieren heute noch Gräber von Häftlingen – einige der Toten konnten auf den französischen Ehrenfriedhof in Berlin umgebettet werden.
Die Schachtanlagen wurden in den 1970er-Jahren stillgelegt. Heute befinden sich auf dem Gelände Geschäfte und am ehemaligen Lagerstandort sind Felder. Spuren des Lagers lassen sich nicht mehr finden. Auf dem Friedhof Löderburg in Staßfurt steht seit 1992 ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer der Häftlinge der Schachtanlage VI.
1991 gründete sich der französische Verein Amicale des Déportés à Neu-Stassfurt (Kommando de Buchenwald). Er erinnert an die französischen Häftlinge des Außenlagers, sammelt Zeugenaussagen und bemüht sich, die Geschichte des Außenlagers zu rekonstruieren.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenksteins auf GoogleMaps

Kontakt:
Amicale des Déportés à Neu-Stassfurt (Kommando de Buchenwald)

Literatur:

Un pas, encore un pas… pour survivre, Amicale des Anciens Déportés à Neu-Stassfurt, Amiens 1996.


Jacques Vigny, vermutlich 1943
Jacques Vigny, vermutlich 1943 ©Amicale des Déportés à Neu-Stassfurt

Jacques Vigny

Jacques Vigny wurde am 6. September 1921 in Vic-sur-Aisne geboren. Um dem Service du Travail Obligatoire, dem Arbeitsdienst in Deutschland, zu entgehen, absolvierte er 1943 die Prüfung zum Polizisten. Kurz darauf schloss er sich der Résistance an. Im Juli 1944 verhaftet und Mitte August mit dem letzten Häftlingstransport aus dem Lager Compiègne bei Paris nach Buchenwald deportiert, kam er in das Außenlager Staßfurt. Im Lager führte er im Geheimen ein Tagebuch. Er floh vom Todesmarsch und kehrte bereits am 7. Mai 1945 nach Frankreich zurück. Als Zeitzeuge setzte er sich später aktiv für das Gedenken ein und trat in Schulen auf. Jacques Vigny starb 2017 in Vic-sur-Aisne.



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