Virginia d’Albert-Lake

(1910-1997)

Virginia d’Albert-Lake nach ihrer Befreiung in Liebenau, 1945
Virginia d’Albert-Lake nach ihrer Befreiung in Liebenau, 1945 ©Familie d‘Albert-Lake

Virginia d'Albert-Lake wurde am 4. Juni 1910 in Dayton, Ohio, als Virginia Rousch geboren. 1937 heiratete die Amerikanerin Philippe d'Albert-Lake, den sie auf einer Reise nach Frankreich kennengelernt hatte. Gemeinsam engagierten sie sich ab 1939 für die Résistance. Die Gestapo verhaftete Virginia d'Albert-Lake im Juni 1944. Über die Gefängnisse in Chartres, Fresnes und Romainville gelangte sie im August 1944 nach Ravensbrück und von dort nach Torgau. Dort blieb sie einen Monat. Sie überlebte weitere Lager, wurde Ende April 1945 in Liebenau am Bodensee befreit und kehrte nach Frankreich zurück. Im Jahr darauf kam ihr Sohn Jean Patrick zu Welt. Virginia d‘Albert Lake starb 1997 in Pleurtuit in der Bretagne.





„Die Mädchen, die in der Fabrik arbeiteten, hatten nicht so viel Glück wie wir. Viele von ihnen wurden sehr dünn und ihre Haut wurde gelb. Sie sahen alle müde aus.“

Aus den Erinnerungen von Virginia d’Albert-Lake

Ankunft in Torgau
„Am Nachmittag des dritten Tages hielten wir im Bahnhof von Torgau. Dies war das Ziel unserer Reise. […] Nach einem etwa dreißigminütigen Fußmarsch, der größtenteils durch offenes Gelände führte, kamen wir an einem Wachposten vorbei und gelangten in eine bewachte Anlage. Hier befanden sich zahlreiche verputzte Gebäude, die zwischen Bäumen standen und von Büschen, Rasenflächen und gepflegten Zementwegen umgeben waren. Ein hoher quadratischer Turm ragte zwischen den Bäumen hervor und wurde von einer Plattform gekrönt, auf der ein weiterer Wachposten stand. Jeanette, die neben mir ging, bemerkte plötzlich: ‚Das ist eine Munitionsfabrik‘. […] Wir überquerten ein Abstellgleis, auf dem mehrere Güterwaggons standen. Als wir an ihnen vorbeigingen, konnten wir lesen, was auf ihre Seite gestempelt war: ‚Munition‘.

Jeanette hatte Recht gehabt. Ein heißes Gefühl der Übelkeit überkam mich. Ich hatte Angst vor Bombardierungen und wollte keine Munition herstellen, um genau die Männer zu töten, die ich zu retten versucht hatte! Wie ironisch das klang. Es sah so aus, als würden wir mitten in der Fabrik leben.“

Das Lager
„Es gab drei kleine Schlafsäle und einen großen. Die Fußböden waren aus Zement, die Pritschen hatten drei Etagen, es gab Dampfheizstrahler, die Strohmatratzen und Kissen waren neu und alles war sauber. Es gab zwei Waschräume, in deren Mitte zwei Tröge und eine Wasserleitung verliefen, mit Ausgüssen in regelmäßigen Abständen. Einzig die Plumpsklos waren nicht zeitgemäß. An einem Ende des Gebäudes befand sich eine Art Anbau, der als Krankenstation dienen sollte, und gegenüber stand ein kurzes, schmales Gebäude – die Kommandostelle des Lagerkommandanten und der SS-Mädchen. […]

Was wir anfangs für eine kleine Fabrik hielten, erwies sich mit der Zeit als eine große Fabrik. Die Gebäude waren so verstreut, so gut versteckt und so gut getarnt, dass wir ihre Ausmaße erst erkannten, nachdem wir uns in dem abgesperrten Bereich so weit bewegen konnten, dass wir sie genauer betrachten konnten. […]

Überall waren riesige Höhlen, stark vergrößerte Kopien unseres Gemüsekellers. Es war offensichtlich, dass sie wichtige Munitionslager beherbergten. Kleine Ventilatoren steckten ihre unschuldig aussehenden Hälse aus dem Teppich aus wildem Gras, der mit kleinen Tannenbäumen übersät war. Eisenbahnschienen verzweigten sich wie Finger, und gepflegte asphaltierte Straßen verliefen in alle Richtungen, aber es gab kein einziges Haus, kein einziges ziviles Auto und keinen einzigen Fußgänger. Der ganze Ort schien von Rätseln und Geheimnissen umhüllt zu sein.“

Arbeit in die Küche
„Die Anglo-Amerikaner, von denen es sieben gab, wurden zur Küchenarbeit abkommandiert. Wir bereiteten Gemüse zu. Elfeinhalb Stunden am Tag schälten wir Kartoffeln. Unsere Finger, Hände und Arme taten weh und wurden vor Müdigkeit taub. Aber ich will mich nicht über die Arbeit beklagen, denn sie brachte auch ihre Vorteile mit sich. Wir durften während der Arbeit so viel rohes Gemüse essen, wie wir wollten. Es war uns zwar verboten, etwas davon mit ins Lager zu nehmen, aber wir taten es trotzdem und versteckten so viel wie möglich in unseren Kleidern, um es den Fabrikmädchen zu geben, die noch mehr Vitamine brauchten als wir. Beinahe jeden Abend machten wir einen Salat. Mittags bekamen wir zusätzlich zur Suppe acht oder zehn kleine gekochte Kartoffeln. Die Hälfte davon hoben wir für den Salat auf, zu dem wir Kohl, Steckrüben, auf dem durchlöcherten Boden einer Blechdose geriebene Möhren, von den Dachsparren des Kellers, in dem das Gemüse gelagert wurde, gestohlene Zwiebeln und durch den Stacheldraht gepflücktes Löwenzahnkraut geben. Einmal gelang es uns, Tomaten aus dem persönlichen Garten des Kommandanten zu stehlen, und ein anderes Mal gaben uns die französischen Kriegsgefangenen etwas von ihrem Gemüse. Die Franzosen gaben uns auch Salz, und obwohl wir weder Öl noch Essig hatten, schmeckten uns die Salate sehr gut!“

In der Fabrik
„Die Mädchen, die in der Fabrik arbeiteten, hatten nicht so viel Glück wie wir. Viele von ihnen wurden sehr dünn und ihre Haut wurde gelb. Sie sahen alle müde aus. Ich schaffte es, mit einer von ihnen einen Tag [Anm.: den Arbeitsplatz] zu tauschen, denn ich war neugierig, wie ihre Arbeit aussah. Alles spielte sich in ein und demselben langen Raum ab. Die Arbeit bestand darin, Geschosshülsen zu überholen. Es war Kettenarbeit, und der Lärm der Säurebadkräne, der sich bewegenden Bänder und der Poliermaschinen war gewaltig. Der Lärm ließ nie nach, bis die Arbeit beendet war, und man konnte nie aufhören, wachsam zu sein, weil immer wieder eine neue Geschosshülse auf dem Band vorbeigeschoben wurde. Ich teilte mir eine der anstrengendsten Arbeiten in der Kette. Zwei von uns steuerten einen Schubkarren, der Kisten mit Hülsen aufnehmen sollte, die ein Kran tropfend aus einem Säurebad herunterließ. Um Verätzungen zu vermeiden, trug ich einen schweren Anzug, dicke Stiefel und Gummihandschuhe, aber die dichten Schwefeldämpfe schienen meine Nasenlöcher und Lungen zu verätzen. Den ganzen Tag über nahmen wir Kisten entgegen, schoben den beladenen Wagen zum rotierenden Transportband und luden die Kisten mit den Hülsen darauf. Sie waren schwer und ihr Gewicht variierte. […] Am Ende von elfeinhalb Stunden Biegen, Heben und Platzieren war ich erschöpft. […] Nun verstand ich, warum die Fabrikarbeiterinnen so schlecht aussahen.“

Aus: Judy Barrett Litoff (Hg.), An American Heroine in the French Resistance: The Diary and Memoir of Virginia D'Albert-Lake, New York 2006, S. 163 ff. (Übersetzung aus dem Englischen)