Halberstadt

26. Juli 1944 – 9. April 1945

Das Lager

Bereits 1935 errichtete die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG am südöstlichen Stadtrand von Halberstadt ein neues Zweigwerk für die Produktion von Flugzeugtragflächen. Seit Kriegsbeginn setzte die Werksleitung ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ein. Wie in vielen anderen Junkerswerken forderte der Konzern im Sommer 1944 auch für das Werk in Halberstadt KZ-Häftlinge an. Das neue Außenlager in Halberstadt trug die Bezeichnung „Kommando Juha“ für Junkers Halberstadt. Es war eines von elf KZ-Außenlagern, das die Buchenwalder SS für den Junkerskonzern einrichtete. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgte in einem bereits bestehenden Barackenlager, das nur wenige hundert Meter vom Werk entfernt an der heutigen Quedlinburger Landstraße lag. Vermutlich wurden einige bestehende Baracken geräumt und für die Erfordernisse eines KZ-Außenlagers umgebaut. Das Häftlingslager bestand aus vier Baracken, in denen Unterkünfte, eine Küche und ein kleines Krankenrevier untergebracht waren – umgeben von Wachtürmen und einem Stacheldrahtzaun.

Die Häftlinge

Über das Außenlager in Schönebeck brachte die SS am 26. und 31. Juli 1944 die ersten 500 Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen nach Halberstadt. Mit dem ersten Transport am 26. Juli traf auch eine kleine Gruppe von Funktionshäftlingen ein, unter ihnen der Lagerälteste Arthur Hunnius aus Estland, zwei Blockälteste, zwei Friseure, mehrere Vorarbeiter und ein Schreiber. Nach weiteren Überstellungen aus dem Hauptlager Buchenwald erreichte das Lager Mitte Dezember 1944 mit 944 Häftlingen seine Höchstbelegung. Es handelte sich vor allem um politische Häftlinge aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion, vereinzelt auch aus Belgien, Deutschland, Jugoslawien, Kroatien, den Niederlanden, Slowenien, Norwegen, Lettland oder Spanien. Mitte Januar und Mitte Februar 1945 wurden insgesamt 500 Männer in das nur wenige Kilometer entfernte Außenlager Langenstein-Zwieberge verlegt. Ende März 1945 befanden sich deshalb nur noch 442 Häftlinge im „Kommando Juha“. Für den Zeitraum des Lagerbestehens sind rund ein Dutzend Fluchten und Fluchtversuche belegt.

„Vom nächsten Morgen an wurden wir in die groẞe Halle der Fabrik geführt, wo Flugzeugflügel der Junkers 88 gebaut wurden.“
Paul Le Goupil
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Junkerswerke in Halberstadt spezialisierten sich auf die Herstellung von Flugzeugtragflächen. Die Häftlinge arbeiteten in der Werkhalle III, die von einem elektrisch geladenen Zaun umgeben war. Zwischen 25 und 40 Prozent wurden als Facharbeiter anerkannt und im Werk als Nieter oder Bohrer eingesetzt. Die Häftlinge standen zu zweit am Fließband – zusammen mit ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, aber auch mit deutschen Zivilarbeitern – und mussten alle vier Stunden eine Tragfläche produzieren. Wie in der Rüstungsproduktion üblich, gab es zwölfstündige Tag- und Nachtschichten. Die Produktion lief rund um die Uhr, nur an einigen Sonntagen und an Weihnachten in reduzierter Form. Materialmangel führte Anfang 1945 vermutlich zur Drosselung der Produktion auf eine Tagschicht, weshalb die Häftlinge nun auch zu Arbeiten außerhalb des Werks gezwungen und 500 Männer in das nahegelegene Außenlager Langenstein-Zwieberge gebracht wurden, um sie dort weiter auszubeuten.

Krankheit und Tod

Im Werk gab es eine kleine Krankenstation, in der die Franzosen Hugo Le Nardi und Louis Joubert sich als Häftlingspfleger um die Kranken kümmerten. Auch im Lager befand sich ein kleines Krankenrevier. Als Häftlingsärzte dokumentiert sind zunächst der im Außenlager Langenstein-Zwieberge eingesetzte Franzose Pierre Raine und ab Oktober 1944 der Franzose Victor Camus, der fest im Lager in Halberstadt blieb. Formal zuständig und verantwortlich für die Krankenstationen in Halberstadt und Langenstein-Zwieberge waren die SS-Ärzte Carl und Huch. Der Betriebsarzt des Junkerswerks namens Straßburger unterzeichnete die Totenscheine. Für das Außenlager in Halberstadt sind mindestens 13 Todesfälle belegt. Die Sterblichkeit lag somit deutlich unter der im benachbarten Langenstein-Zwieberge, wo wesentlich schlechtere Lebens- und Arbeitsbedingungen herrschten. Die Toten ließ die SS im Krematorium in Quedlinburg einäschern.

Bewachung

Der Kommandoführer des Junkers-Außenlagers in Schönebeck Gustav Borell (1898-1969) war für die Einrichtung des Lagers zuständig und scheint auch danach eine Aufsichtsfunktion innegehabt zu haben. Kurzzeitig setzte er zunächst einen Feldwebel namens Thinius als Kommandoführer vor Ort in Halberstadt ein. Er wurde jedoch schon bald durch den SS-Sturmscharführer Heinrich-Ludwig Bachfischer (geb. 1910) ersetzt, der bis zur Räumung des Lagers vor Ort blieb. Über ihn liegen bisher keine weiteren Informationen vor. Für die Bewachung des Lagers unterstanden ihm rund 50 SS-Männer. Die meisten von ihnen waren an die SS überstellte Wehrmachtssoldaten, die sich Berichten zufolge weniger gewalttätig als in anderen Lagern verhielten. Ein Ermittlungsverfahren der Zentralen Stelle in Ludwigsburg gegen Heinrich-Ludwig Bachfischer wurde 1977 eingestellt. Der Beschuldigte konnte nicht ermittelt werden.

Räumung

Am 8. April 1945 bombardierten die Alliierten Halberstadt und die Junkerswerke schwer. Am nächsten Tag begann die SS, das Lager in Halberstadt zu räumen. Kranke Häftlinge, die nicht marschieren konnten, brachte sie in das benachbarte Lager Langenstein-Zwieberge, wo amerikanische Truppen die Überlebenden wenige Tage später befreiten. Die übrigen Männer trieb die SS auf einen Todesmarsch. Zunächst marschierten sie in östlicher Richtung nach Lutherstadt Wittenberg. Vermutlich schlossen sie sich den Kolonnen der Häftlinge aus Langenstein-Zwieberge an. Dann aber trennten sie sich wieder, und die Häftlinge aus Halberstadt zogen nach Süden in Richtung Erzgebirge. Am 1. Mai wurde eine erste Gruppe bei Borstendorf befreit. Spätestens am 4. Mai setzte sich die Wachmannschaft ab, und der Rest der Häftlingskolonne löste sich auf. Wie viele Männer während des Todesmarsches ums Leben kamen, ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Heute sind in Halberstadt weder von den Junkerswerken noch vom Barackenlager bauliche Spuren zu sehen. Im Rahmen eines Schulprojekts erarbeiteten Schülerinnen und Schüler der Carl-Kehr-Schule des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte 2004 eine Informationstafel, die an einer Halle der heutigen Maschinenbau Halberstadt GmbH in der Rudolf-Diesel-Straße 50 auf dem ehemaligen Junkerswerksgelände angebracht wurde. Sie ist nicht offen zugänglich.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Literatur:

Denise Wesenberg/Ellen Fauser, Halberstadt, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 455-457.


Paul Le Goupil nach seiner Ankunft im KZ Buchenwald (Ausschnitt der Häftlingspersonalkarte), 1944
Paul Le Goupil nach seiner Ankunft im KZ Buchenwald (Ausschnitt der Häftlingspersonalkarte), 1944 ©Erkennungsdienst der SS (Arolsen Archives)
„Vom nächsten Morgen an wurden wir in die groẞe Halle der Fabrik geführt, wo Flugzeugflügel der Junkers 88 gebaut wurden.“

Paul Le Goupil

Paul Le Goupil kam am 12. Dezember 1922 in Connerré zur Welt und wuchs in der Nähe von Rouen auf. Der junge Lehrer engagierte sich ab 1942 im Widerstand. Im Jahr darauf nahm ihn die Gestapo fest und inhaftierte ihn im Lager Compiègne bei Paris. Über das KZ Auschwitz wurde er im Mai 1944 nach Buchenwald deportiert. Vier Monate später brachte die SS ihn nach Halberstadt und später nach Langenstein-Zwieberge. Er überlebte den Todesmarsch und kehrte nach Frankreich zurück, wo er wieder als Lehrer arbeitete. 1991 veröffentlichte Paul Le Goupil seine Erinnerungen über die Zeit im Konzentrationslager. Er starb 2017 mit 95 Jahren.



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