Wolfen (Frauen)

1. September 1944 – um den 15. April 1945

Das Lager

In Wolfen, südlich von Dessau im heutigen Sachsen-Anhalt, existierte seit 1909 die Filmfabrik Wolfen. Seit 1925 war sie Teil der I.G. Farbenindustrie AG. 1936 wurde hier das bislang größte Faserwerk der Welt errichtet. Im Krieg stieg die Nachfrage der Wehrmacht nach synthetischen Fasern stetig. Um die Produktion zu steigern, setzte das Unternehmen bereits seit Kriegsbeginn in großem Umfang ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in der Filmfabrik ein. Anfang 1945 machten sie rund 40 Prozent der Belegschaft des Unternehmens aus. Im Mai 1943 richtete die Werksleitung gemeinsam mit der SS auf dem Firmengelände westlich des Stadtzentrums zusätzlich ein KZ-Außenlager ein. Es unterstand zunächst dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Berichten zufolge waren die drei Baracken – für die weiblichen KZ-Häftlinge neben einem bestehenden Lager für „Ostarbeiterinnen“ in der Thalheimer Straße erbaut – beheizt und in Aufenthalts- und Schlafräume mit dreistöckigen Holzpritschen unterteilt. Die Frauen mussten jeden Tag zu Fuß über einen Feldweg zu ihrem Arbeitsort in der Fabrik gehen. Zum 1. September 1944 wurde das Frauenaußenlager in Wolfen offiziell dem Konzentrationslager Buchenwald unterstellt.

Das Zwangsarbeiterlager der I.G. Farbenindustrie AG, Filmfabrik Wolfen. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich die Baracken des KZ-Außenlagers, ohne Datum.
Das Zwangsarbeiterlager der I.G. Farbenindustrie AG, Filmfabrik Wolfen. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich die Baracken des KZ-Außenlagers, ohne Datum. ©Bildarchiv Industrie- und Filmmuseum Wolfen

Die Häftlinge

Am 17. Mai 1943 brachte die SS die ersten 250 Frauen aus Ravensbrück nach Wolfen. Im Dezember folgten 125 weitere Häftlinge. Bis zur Übernahme des Lagers durch das Konzentrationslager Buchenwald im September 1944 stieg die Zahl der Häftlinge auf insgesamt 425 Frauen im Alter von 16 bis 58 Jahren. Über 300 von ihnen stammten aus der Sowjetunion. Sie hatten zuvor als „Ostarbeiterinnen“ in Deutschland arbeiten müssen oder sie waren wegen Widerstandes direkt aus ihrer Heimat nach Ravensbrück deportiert worden. Die zweitgrößte Gruppe im Lager bildeten 100 Frauen aus Polen, die den roten Winkel der politisch Verfolgten trugen. Hinzu kamen sieben Frauen aus Jugoslawien, eine Tschechoslowakin und eine Deutsche. Eine weitere Frau brachte die SS im September 1944 aus Auschwitz nach Wolfen: die französische Ärztin Suzanne Dreyfus. Sie war die einzige Frau in Wolfen, die als jüdischer Häftling galt. Wegen Rohstoffmangels in der Produktion reduzierte die SS im Februar 1945 die Zahl der Häftlinge. 200 von ihnen brachte sie in das KZ Bergen-Belsen. Zum Zeitpunkt der Räumung des Lagers befanden sich noch 225 Frauen in Wolfen.

„Wir hatten zwei Aufseherinnen, aber die eine hat mich nur getreten mit den Stiefeln. Die Mädchen haben mir dann geholfen, denn alleine hätte ich es nicht nach Hause geschafft.“
Aleksandra Pawlowna Lawrik
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Zwangsarbeit

Die meisten Frauen mussten in der Zellstoffherstellung arbeiten – vermutlich in den Abteilungen Kunstseide, Vistra und Zellwolle der Filmfabrik. Da sie keine Arbeitskleidung erhielten, kamen die Frauen bei der Arbeit vielfach mit giftigen Materialien in Berührung. Die 12-stündigen Tag- und Nachtschichten waren nur von einer einstündigen Pause pro Schicht unterbrochen. Freie Tage gab es nicht, da auch sonntags – wenn auch in reduzierter Form – produziert wurde. Mit sogenannten Prämien für gute Leistungen versuchte die Werksleitung, die Einsatzbereitschaft der Frauen zu erhöhen. Die Prämiengutscheine konnten die Frauen gegen Essbares, Nadel und Faden, Seife oder Zahnbürsten eintauschen.

Krankheit und Tod

Eine kleine Krankenstation des Lagers war in einem steinernen Gebäude untergebracht. Als Häftlingsärztin kümmerte sich dort die französische Medizinerin Suzanne Dreyfus um die Kranken. Über die medizinische Versorgung ist ansonsten wenig überliefert. Im März 1945 waren von den 225 noch im Lager befindlichen Frauen durchschnittlich neun pro Tag wegen Krankheit nicht arbeitsfähig. Die meisten litten Berichten zufolge an Lungenerkrankungen, was eine Folge des Einatmens von Giftstoffen in der Fabrik gewesen sein könnte. Todesfälle sind für das Außenlager bei der Filmfabrik in Wolfen nicht belegt.

Bewachung

Als Kommandoführer in Wolfen setzte die Buchenwalder Lagerleitung SS-Oberscharführer Friedrich Grämlich ein. Über ihn liegen bisher keine weiteren Informationen vor. Zur Bewachung des Lagers unterstanden ihm – Stand März 1945 – sechs SS-Männer und 16 SS-Aufseherinnen. Wie bei allen Frauenaußenlagern hatte sich auch die Filmfabrik in Wolfen in den Verhandlungen mit der SS verpflichtet, die Aufseherinnen für das Lager in der Belegschaft der Fabrik anzuwerben. Zumindest ein Teil von ihnen dürfte somit aus dem Umfeld der Filmfabrik gestammt haben. Vor ihrem Dienst in Wolfen waren sie in einem Kurzlehrgang im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ausgebildet worden. Als Oberaufseherin fungierte Erna Siede.
Eine der Aufseherinnen, Anna Becker, die auch im Außenlager Sömmerda tätig gewesen war, wurde Anfang Dezember 1945 im sowjetischen Speziallager Nr. 2 in Buchenwald interniert. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte sie im November 1946 wegen Misshandlungen von Häftlingen im Außenlager Wolfen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Ein Voruntersuchungsverfahren wegen Tötungshandlungen im Kontext der Räumung des Außenlagers Wolfen wurde 1971 ergebnislos eingestellt.

Räumung

Die Räumung des Lagers erfolgte vermutlich zwischen dem 14. und 16. April 1945. Zusammen mit über Hundert Frauen, die einige Tage zuvor aus einem anderen, nicht eindeutig zu identifizierenden Lager nach Wolfen gebracht worden waren, schickte die SS die Frauen des Außenlagers Wolfen per Bahn über Leipzig und Dresden in Richtung Tschechoslowakei. In Pirna hielt der Zug, und die Frauen mussten weiter in Richtung Teplitz (Teplice) marschieren. In Auperschien, dem heutigen (Úpořiny), setzte sich die Wachmannschaft vermutlich Anfang Mai 1945 ab. Kurz darauf erreichten sowjetische Truppen die Marschkolonne und befreiten die Frauen.

Spuren und Gedenken

Nach dem Krieg ließ die sowjetische Militäradministration Teile der Filmfabrik in Wolfen demontieren und in die Sowjetunion bringen. In reduzierter Form firmierte die Filmfabrik in Wolfen ab 1953 als VEB Film- und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen.
Wann der Abriss des Barackenlagers auf dem Fabrikgelände erfolgte, ist nicht bekannt. Heute befinden sich auf dem Gelände Wohnhäuser. Vor Ort verweist nichts auf die Existenz des Frauenaußenlagers. Noch 1945 ließ die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der Leipziger Straße in Wolfen einen Gedenkstein errichten. Er erinnert an zwei unbekannte KZ-Häftlinge, die am 15. April 1945 auf einem Todesmarsch ermordet wurden. Ob es sich um Frauen aus dem Außenlager Wolfen oder um Häftlinge eines anderen Lagers handelte, die Wolfen durchquerten, ist nicht bekannt.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenksteins auf GoogleMaps

Literatur:

Irmgard Seidel, Wolfen, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 618-621


Aleksandra Pawlowna Lawrik mit ihrem Sohn Anatolij, 1936
Aleksandra Pawlowna Lawrik mit ihrem Sohn Anatolij, 1936 ©Gedenkstätte Buchenwald
„Wir hatten zwei Aufseherinnen, aber die eine hat mich nur getreten mit den Stiefeln. Die Mädchen haben mir dann geholfen, denn alleine hätte ich es nicht nach Hause geschafft.“

Aleksandra Pawlowna Lawrik

Aleksandra Pawlowna Lawrik wurde am 18. Juli 1918 im ukrainischen Dnipropetrowsk geboren. Sie stammte aus einer armen Familie, heiratete früh und bekam einen Sohn. Als Mitglieder der kommunistischen Partei verhaftete die Gestapo sie und ihren Vater im Sommer 1943. Über das Konzentrationslager Ravensbrück kam sie nach Wolfen. Bei der Räumung des Lagers gelang ihr die Flucht. Sie schlug sich bis in ihre Heimat durch. Weil sie in Deutschland war, galt sie in ihrer Heimat als Verräterin. Für einige Zeit musste sie in ein Arbeitslager, und man verweigerte ihr eine Anstellung. Nach dem frühen Tod ihres Mannes sorgte sie allein für ihre nunmehr drei Kinder. Aleksandra Lawrik starb 2009 in ihrer Heimatstadt.



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