
Jacqueline Marié wurde am 12. Dezember 1923 in Wiesbaden geboren, wo ihr Vater als Angehöriger des französischen Militärs stationiert war. Zurück in Frankreich lebte die Familie zunächst in Straßburg, später in Versailles. Nach der deutschen Besetzung engagierten sie sich im Widerstand. Die 17-jährige Jacqueline verteilte Untergrundzeitungen und beschaffte Informationen. Im Juni 1944 wurde sie mit ihren Eltern verhaftet. Mit ihrer Mutter durchlief sie die Lager Ravensbrück, Torgau, Abteroda und Markkleeberg. Auf einem Todesmarsch gelang ihr die Flucht. Nach der Rückkehr in ihre Heimat gründete sie mit ihrem Ehemann Guy Fleury eine Familie und setzte sich aktiv für die Erinnerung an die weiblichen KZ-Häftlinge ein. Sie lebt in Versailles.
Aus den Erinnerungen von Jacqueline Fleury-Marié
Nach Abteroda
„Ich gehöre zu der Gruppe, die nach Abteroda gebracht wird. Für unsere Ankunft ist nichts vorgesehen. Wir werden auf leeren Dachböden untergebracht, schlafen auf Zement, ohne Strohmatten, nichts, gar nichts. Später werden Bettgestelle über einer großen Werkhalle aufgestellt, aus der ständig Lärm kommt. Hier werden V1 und V2 – auf Deutsch: die Vergeltungswaffen 1 und 2 – hergestellt, von den Nazis entwickelte ballistische Raketen.“
Sabotage
„Dann kommt wieder unsere quälende Gewissensfrage. Wie konnten wir als Widerstandskämpferinnen für die deutsche Armee arbeiten? Nein! Definitiv nicht!
Wir setzen winzige Teile zusammen. Wir spielen die inkompetenten Idioten, die nicht für die Arbeit in einer Fabrik geeignet sind und nicht in der Lage sind, Maschinen zu bedienen, die ständig durchbrennen und die man daher stundenlang reparieren muss ... Da meine Mutter und ich an der Kontrolle der Teile arbeiten und sie in gute und schlechte Teile sortieren müssen, die in zwei verschiedene Kisten gelegt werden sollen, eine rechts, die andere links, passiert es uns oft, dass wir uns ‚irren‘, die Teile vertauschen, die guten mit den schlechten und umgekehrt ... Die Deutschen sagen, wir Französinnen seien lausige Arbeiterinnen und vor allem schädlich für das Großdeutsche Reich. Und diese Beleidigungen belasten uns nicht. Ganz im Gegenteil, sie freuen uns.“
Weihnachten 1944
„Die Ardennenoffensive oder Unternehmen ‚Wacht am Rhein‘, wie die Deutschen sie nennen, macht die Nazi-Armee munter. Unsere Bewacher denken, dass sie wieder an Kraft gewinnen; ihre Boshaftigkeit wird dadurch verzehnfacht. Glücklicherweise gibt es auch Lichtblicke, die sich in diese Hölle schleichen. Ein Beispiel dafür ist die unglaubliche Feier, die wir an Weihnachten 1944 gemeinsam feiern.
Obwohl die Gefangenen nichts besitzen, nicht einmal ein Taschentuch, entsteht wie durch ein Wunder eine Krippe – eine richtige Kampfansage an die Nazis. Unter großen Risiken gelingt es einigen Kameradinnen, die Szene in Bethlehem nachzustellen. Hierfür verwenden sie die verschiedensten und außergewöhnlichsten Dinge, die man sich vorstellen kann, ein wenig Brotkrumen, Lumpen, Metallspäne ... Es werden, vor allem dank der Geschicklichkeit einer jungen Modistin, Kleidungsstücke, Stroh, Papier, Pappe usw. verwendet. Die meisten dieser Dinge stammen aus der Fabrik. Sie zu stehlen, ist strengstens verboten und wird bestraft. Aber was für ein Gefühl, diese ungewöhnliche Krippe inmitten dieser Hölle zu betrachten! Während die SS in dieser Weihnachtsnacht lautstark ihren Vormarsch in die Ardennen feiert, stehen wir eng beieinander, Gläubige und Ungläubige, und halten eine Messe ab. Trotz des Schmerzes und der Traurigkeit unseres Schicksals: Unter uns gibt es mehrere, die ihre kleinen Kinder als Babys zurücklassen mussten, unter schrecklichen Bedingungen bei den Verhaftungen. Unter unseren abscheulichen Decken versteckt, beten und weinen wir alle leise. Doch zum ersten Mal scheinen unsere Peiniger angesichts dieses verblüffenden Schauspiels entwaffnet zu sein. Trotz ihrer Wut und der erhobenen Peitsche wagt es die Lagerkommandantin nicht, ein in seiner Einfachheit so bewegendes Werk zu zerstören.“
Aus: Jacqueline Fleury-Marié, Résistante, Paris 2019, S. 119-125. (Übersetzung aus dem Französischem)