Bad Gandersheim

2. Oktober 1944 – 4. April 1945

Das Lager

Das „Außenkommando Brunshausen, Apparatebau, Werk A“, so die offizielle Bezeichnung, bestand ab Oktober 1944 in einem Ortsteil von Bad Gandersheim. Der Rostocker Rüstungsbetrieb Ernst Heinkel AG ließ dort Flugzeugteile für den Nachtjäger He 219 produzieren. Anfänglich waren keine Lagerstrukturen vorhanden: Die Klosterkirche von Brunshausen, wenige hundert Meter nordöstlich des Werks, diente als Massenunterkunft. Das säkularisierte Gebäude war verwahrlost. Berichten zufolge gab es keine Betten. Die Häftlinge mussten auf ausgelegtem Stroh schlafen. Das Krankenrevier befand sich im Chor der Klosterkirche, ohne Wärmequelle, mit zerborstenen und nur notdürftig geflickten Fenstern. Erst im Januar 1945 wurde ein unmittelbar südlich des Werks gelegenes Barackenlager bezogen. Westlich war es durch eine Bahnstrecke, östlich durch die Ortstrasse nach Bad Gandersheim begrenzt. Drei Holzbaracken dienten als Unterkünfte, eine als Revier. Sowohl das Werks- als auch das Lagergelände waren von Stacheldraht umzäunt.

Die Klosterkirche Brunshausen, Ansichtskarte um 1930
Die Klosterkirche Brunshausen, Ansichtskarte um 1930 ©Museum der Stadt Bad Gandersheim

Die Häftlinge

Der erste Transport mit 200 Häftlingen traf am 2. Oktober 1944 aus Buchenwald am Werksbahnhof ein. Weitere folgten am 27. Oktober aus dem KZ Dachau mit 333 und am 13. November aus dem KZ Sachsenhausen mit 50 Häftlingen. Letztere hatten vermutlich bereits bei dem dortigen Heinkel-Werk in Oranienburg Zwangsarbeit leisten müssen. Durchschnittlich waren 520 bis 550 Häftlinge aus 14 Ländern in Bad Gandersheim inhaftiert, größtenteils französische, italienische, polnische und sowjetische Häftlinge, aber auch Deutsche, Spanier und Tschechoslowaken. Jüdische Häftlinge befanden sich nicht darunter. Der Großteil der Häftlinge scheint als Facharbeiter in den jeweiligen Lagern für den Einsatz in Bad Gandersheim ausgewählt worden zu sein. Eine kleine Gruppe deutscher Häftlinge setzte die SS als Funktionshäftlinge ein. Einige von ihnen, wie beispielsweise der Lagerälteste Paul Knopf, ein langjähriger politischer Häftling, waren Berichten zufolge für ihre Skrupellosigkeit und Brutalität berüchtigt.

„Das Schreckliche bestand hier in der Ungewißheit, in dem völligen Mangel an Anhaltspunkten, in der Einsamkeit, der ständigen Unterdrückung, der langsamen Vernichtung.“
Robert Antelme
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Ernst Heinkel AG mietete sich in bereits bestehende Fertigungsanlagen der Firma Carl Bruns Apparate GmbH Bau ein. Zuvor war die deutsche Belegschaft aus einem Zweigwerk im südpolnischen Mielec nach Bad Gandersheim verlegt worden. Ziel war es, Flugzeugrümpfe der He 219 herzustellen. Die KZ-Häftlinge stellten das Gros der Arbeiter. Im Hauptgebäude wurden, angeleitet und kontrolliert von Zivilarbeitern, auf zwei Ebenen Einzelteile gefertigt und montiert. Gefürchtet war das Arbeitskommando „Barackenbau“: Dem Regen und der Kälte ungeschützt ausgesetzt, mussten die Häftlinge das Lager errichten oder im angrenzenden Steinbruch arbeiten. Kleinere Arbeitskommandos, wie die Wäscherei, Schneiderei oder Schusterei, waren für den Betrieb des Lagers verantwortlich. Für die Monate Oktober 1944 bis Februar 1945 ist belegt, dass für die KZ-Zwangsarbeit über 342.000 Reichsmark an die SS entrichtet wurden. Sonntagsarbeit war die Regel.

Krankheit und Tod

Lediglich zwei ausgebildete Häftlingsärzte, der Russe Walentin Schevelew und der Spanier José Gomez, sowie zwei Pfleger setzte die SS für die Krankenversorgung ein. Der Krankenstand war durchweg hoch. Ende Januar 1945 befanden sich 65 Häftlinge in stationärer Behandlung oder sie waren als „Schonungskranke“ zeitweise von der Zwangsarbeit freigestellt. Unfälle waren an der Tagesordnung. Der Belgier Kamiel Baert verletzte sich im Oktober 1944 bei Holzsägearbeiten. Der Verlust von Teilen seines Daumens und kleinen Fingers führte zu einer schweren Infektion und schließlich zur Amputation des linken Unterarms im Krankenrevier von Buchenwald. Am 28. Oktober wurde der erste Todesfall gemeldet. Der 43-jährige Pierre Delanchy, ein Landarbeiter aus Nordfrankreich, erlag einer Lungenentzündung. Bis zur Räumung des Lagers verstarben nachweislich 28 Männer. Mit einer Ausnahme erfolgte die Bestattung auf dem Salzbergfriedhof in Bad Gandersheim.

Bewachung

Gut zwei Wochen vor der Errichtung des Außenlagers konnte der Firma Bruns telegrafisch Vollzug gemeldet werden: Das Ergänzungsamt der Waffen-SS war mit dem freiwilligen Eintritt von sechs Angehörigen des Werkschutzes in die Lager-SS einverstanden, sofern die Bewerber „Reichsdeutsche“, „voll wachdiensttauglich“ und aus den Geburtenjahrgängen ab 1903 und älter waren. Weitere Rekrutierungen erfolgten aus der Wehrmacht. Für Ende Februar 1945 ist belegt, dass 8 SS-Unterführer und 44 SS-Männer für die Bewachung zuständig waren. Als Kommandoführer fungierte zunächst SS-Unterscharführer Anton Przybylski und vermutlich ab Mitte November 1944 SS-Hauptscharführer Werner Dillenborger (geb. 1912), ein zur SS überstellter Oberfeldwebel der Luftwaffe. 1949 verurteilte das Schwurgericht Göttingen den SS-Wachmann Alber Jokussies und einen ehemaligen Funktionshäftling wegen der Tötung eines Häftlings auf dem Todesmarsch aus dem Außenlager Bad Gandersheim zu jeweils vier Jahren Zuchthaus. Weitere Verurteilungen sind nicht bekannt.

Räumung

Anfang April 1945 gab der NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar der Region, Hartmann Lauterbacher (1909-1988), angesichts des nahen Frontverlaufs den Befehl, Bad Gandersheim zu räumen und marschunfähige Häftlinge zu erschießen. In den frühen Morgenstunden des 4. Aprils ermordete die SS mithilfe von Lagerkapos 40 kranke Häftlinge in dem nahegelegenen Cluser-Wald. Sowjetische Häftlinge mussten die Toten verscharren. Die verbliebenen etwa 480 Häftlinge wurden Richtung Harz getrieben und zahllose von ihnen unterwegs getötet. Ob und wie viele Fluchtversuche glückten, ist unbekannt. Die Marschroute führte über Braunlage, Wernigerode und Quedlinburg bis nach Bitterfeld, wo die Häftlinge am 14. April mit dem Zug über Dresden und Prag weitertransportiert wurden. Am 27. April erreichten sie das KZ Dachau, mehr als drei Wochen nach der Räumung von Bad Gandersheim. Ein amerikanischer Untersuchungsbericht von Ende November 1945 gab die Zahl von nur 180 Überlebenden an.

Von den SS-Begleitmannschaften am 6. April nahe Clausthal-Zellerfeld ermordete Häftlinge, 21. April 1945. Foto: Edward A. Norbuth (U.S. Army Signal Corps)
Von den SS-Begleitmannschaften am 6. April nahe Clausthal-Zellerfeld ermordete Häftlinge, 21. April 1945. Foto: Edward A. Norbuth (U.S. Army Signal Corps) ©National Archives at College Park, Maryland

Spuren und Gedenken

Einwohnerinnen und Einwohner von Bad Gandersheim mussten im Sommer 1945 die im Cluser-Wald verscharrten Leichen exhumieren. Die Toten wurden anschließend auf den Salzbergfriedhof umgebettet. Ein Gedenkstein erinnert an das Verbrechen. Seit Mitte der 1980er-Jahre initiierten meist zivilgesellschaftliche Gruppen eine Vielzahl weiterer Erinnerungs- und Gedenkorte. Am Portal der Klosterkirche Brunshausen verweist seit 1985 eine Gedenktafel, direkt vor dem Eingang seit 1989 ein Gedenkstein, auf die Geschehnisse vor Ort. In der Klosterkirche befindet sich heute ein Museum, das Portal zur Geschichte, in dem auch die Geschichte des Außenlagers präsentiert wird. In unmittelbarer Nähe ehrt seit 2002 eine Tafel Robert Antelme, den wohl bekanntesten Häftling von Bad Gandersheim. Zugleich informiert sie über den Gedenkweg, der zur Erschießungsstelle im Cluser Wald führt. Dort steht seit 1991 ein Gedenkkreuz. Von dem ehemaligen Barackenlager sind keine Überreste mehr vorhanden. Auf Teilen des Werksgeländes ist heute ein Industrieunternehmen ansässig.

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Kontakt:
Portal zur Geschichte

Gedenkstein und Informationstafel auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Gedenkstein und Informationstafel auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte
Gedenkstein auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Gedenkstein auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte
Informationstafel auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Informationstafel auf dem Salzberg-Friedhof, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte
Der Gedenkstein an der Klosterkirche Brunshausen, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Der Gedenkstein an der Klosterkirche Brunshausen, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte
Die Gedenktafel an der Klosterkirche Brunshausen, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Die Gedenktafel an der Klosterkirche Brunshausen, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte
Das Gedenkkreuz im Cluser-Wald, 2025. Foto: Tanja Bobinac
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Das Gedenkkreuz im Cluser-Wald, 2025. Foto: Tanja Bobinac ©Portal zur Geschichte

Literatur:

Paul Le Goupil, Gigi Texier u. Pierre Texier, Bad Gandersheim. Autopsie eines Außenkommandos von Buchenwald, Bad Gandersheim 2005.

Frank Baranowski, Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929-1945, 2 Aufl., Bad Langensalza 2017.

Petra Schmidt u. Victoria Breitenfeld, Opfer und Täter in einer Person. Zwei biographischen Skizzen, in: Dachauer Hefte, Heft 10 (1994), S. 167-190.


Robert Antelme, 1937
Robert Antelme, 1937 ©Sammlung Jean Mascolo
„Das Schreckliche bestand hier in der Ungewißheit, in dem völligen Mangel an Anhaltspunkten, in der Einsamkeit, der ständigen Unterdrückung, der langsamen Vernichtung.“

Robert Antelme

Robert Antelme, am 5. Januar 1917 auf Korsika geboren, stammte aus einer großbürgerlichen, katholischen Beamtenfamilie. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Sorbonne als Redakteur tätig, schloss er sich während der deutschen Besatzung einer Pariser Widerstandsgruppe an. Er wurde von der Gestapo verhaftet und am 21. August 1944 nach Buchenwald deportiert und schließlich nach Bad Gandersheim gebracht. Dort blieb er bis zur Räumung des Lagers. Als er in Dachau befreit wurde, war sein Gesundheitszustand katastrophal. Nach seiner Rückkehr nach Paris veröffentlichte er 1947 seine Erinnerungen und Reflexionen unter dem Titel L’espèce humaine (Das Menschengeschlecht). Er arbeitete als Lektor und engagierte sich politisch. Robert Antelme starb 1990 in Paris.



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