Robert Antelme

(1917-1990)

Robert Antelme, 1937
Robert Antelme, 1937 ©Sammlung Jean Mascolo

Robert Antelme, am 5. Januar 1917 auf Korsika geboren, stammte aus einer großbürgerlichen, katholischen Beamtenfamilie. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der Sorbonne als Redakteur tätig, schloss er sich während der deutschen Besatzung einer Pariser Widerstandsgruppe an. Er wurde von der Gestapo verhaftet und am 21. August 1944 nach Buchenwald deportiert und schließlich nach Bad Gandersheim gebracht. Dort blieb er bis zur Räumung des Lagers. Als er in Dachau befreit wurde, war sein Gesundheitszustand katastrophal. Nach seiner Rückkehr nach Paris veröffentlichte er 1947 seine Erinnerungen und Reflexionen unter dem Titel L’espèce humaine (Das Menschengeschlecht). Er arbeitete als Lektor und engagierte sich politisch. Robert Antelme starb 1990 in Paris.





„Das Schreckliche bestand hier in der Ungewißheit, in dem völligen Mangel an Anhaltspunkten, in der Einsamkeit, der ständigen Unterdrückung, der langsamen Vernichtung.“

Aus den Erinnerungen von Robert Antelme

Bad Gandersheim
„Ich berichte hier über das, was ich erlebt habe. Das Schreckliche hat hier nichts Gigantisches. In Gandersheim gab es weder Gaskammer noch Krematorium. Das Schreckliche bestand hier in der Ungewißheit, in dem völligen Mangel an Anhaltspunkten, in der Einsamkeit, der ständigen Unterdrückung, der langsamen Vernichtung. Den Auftrieb zu unserem Kampf bezogen wir aus dem wahnsinnigen und an uns selbst gestellten Anspruch, bis zum Ende Menschen zu bleiben.“

Nachbarschaft
„Die Bäuerin, die neben der Kirche wohnt, hat ein Sonntagskleid und Stiefel angezogen. Sie ist rotbackig, kräftig und lacht immer, wenn sie uns sieht … Sie dachte wohl nicht, daß es eines Tages neben dem Bauernhof eine Versammlung so lächerlicher Burschen geben würde. Dank ihrer SS kann sie das nun sehen.
Ihr Sohn, ein Hitlerjunge, trägt heute die Uniform mit dem Dolch und der Hakenkreuzbinde. […] Auch er ist stolz auf seine SS.
Manchmal schlachtet die Bäuerin für den Lagerführer ein Huhn. […]
Der Sohn bringt dem SS-Führer das Huhn. […] Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er Russen, Polen, Franzosen, Italiener …“

Hunger
„Hier in Gandersheim hat es angefangen. Die Suppe in Buchenwald war wunderbar, verglichen mit dieser hier. […] Der Hunger hat sich ganz allmählich und heimlich ausgebreitet und jetzt sind wir von ihm besessen. […]
Als wir hier angekommen sind, konnten die meisten noch an etwas anderes denken als an den Hunger. Jetzt sind wir wie Schlafwandler. Eine gealterte Masse, von Station zu Station vorangetrieben: vom Brot in die Fabrik, von der Fabrik zur Suppe, von der Suppe zum Strohsack.
Immer das Gewicht des leeren Magens, die reglosen Kauwerkzeuge, die Schwerfälligkeit ihrer Knochen. Die Zähne bleiben weiß. Bereit, alles zu essen, was man ihm gibt, bleibt der Beißapparat steif und still wie die leerlaufenden Maschinen, die nichts bewegen. Erst nach dem Tod wird er zusammenfallen.“

Läuse
„Wir haben alle Läuse. Der Transport aus Dachau hat sie mitgebracht. Wir können unsere Wäsche nicht wechseln, wir können uns nicht mit warmem Wasser waschen […]. Sie sitzen im Hemd, in der Unterhose. Man zerquetscht und zerquetscht. Die Daumennägel sind rot von Blut. Die Nähte entlang hängen ganze Trauben von Nissen, es gibt noch und noch, fett, ekelerregend. Auf meinem Hemd, auf meiner von wundgekratzten Stichen roten Haut ist Blut. Krusten bilden sich allmählich, ich reiße sie an und sie bluten. Ich kann nicht mehr, ich werde schreien.“

Werksangehörige
„Geschrei übertönte den Lärm der Kompressoren. Es war ein Meister, der herumbrüllte, ein Riese mit einem kastanienbraunen Hut. […] Ein Franzose bekam Schläge. Er hatte Blut im Gesicht, und jetzt versetzte ihm der Meister verbissen Fußtritte in den Rücken. Dann hat er aufgehört, er hatte sich ausgetobt. […] Er blieb einen Augenblick lang gezeichnet von dem, was er gerade vollbracht hatte. Diese Tat, die ihm Vergnügen bereitete, hob ihn auch über seinen Rang als kleiner Werkmeister hinaus. Es war ein offizieller Staatsbürgerakt. Indem er zuschlug, hatte er sich die Hände schmutzig gemacht für diejenigen, die abseits standen. Es waren einige darunter, die zuschlugen, und das waren die Helden.“

Krankenmord
„Am Tag zuvor hatte man den Kranken gesagt, daß sie ins Krankenhaus von Gandersheim kämen und dort behandelt werden sollten. […] Sie lächelten. Sie würden ins Krankenhaus kommen, die Alliierten waren nicht mehr fern, sie bräuchten nicht zu laufen. […]
Die kleine Gruppe ist an der Revierbaracke entlanggegangen und hat sie dann hinter sich gelassen. Jetzt würden sie nach links einbiegen, um auf die Straße zu kommen. Nach links gings zur Straße, nach links, man mußte nach links einbiegen, aber sie bogen nach rechts ab […]. Die Gruppe der Kranken ist nach rechts abgebogen und das Wäldchen hinaufgeklettert. […]
Eine Maschinengewehrgarbe. Eine Maschinengewehrgarbe. Vereinzelte Schüsse. Ein letzter Schuß. […]
Wir werden nie wissen, wann sie begriffen haben, daß man sie töten würde, weil sie gesagt hatten, daß sie nicht laufen können.“

Öffentlichkeit
„Die ersten Häuser. Die Straßen sind eng und verdreckt. An den Fenstern werden Vorhänge beiseite geschoben, und an den Scheiben tauchen die Gesichter von Frauen auf, die Radio hörten, sich am Herdfeuer wärmten oder stopften. Eine Kolonne kommt vorbei. Die Straße ist lang. Konditorei. Café … Einige lachen und zeigen mit dem Finger auf uns […].
Andere sind erschüttert und legen die Hand vor die Augen, als ob wir sie blendeten.“

Im Viehwaggon
„Es gibt keinen Platz, um die Beine unterzubringen. Diejenigen, die in diesem Kampf als erste müde wurden, wurden unter Beinen begraben. […] Der Waggon brüllte. In der Dunkelheit bildeten die ineinanderverschlungenen Beine Knoten, die gewaltsam gelöst wurden: keiner wollte erdrückt werden. Es war nur ein Kampf von Beinen. Mit geschlossenen Augen gab man sich diesem Gewimmel hin […]. Schließlich fielen die Beine erschöpft herab, willigten ein, von anderen, stärkeren zermalmt zu werden. Aber die stärksten wollten immer die stärksten sein, sich auf einem Bett von Beinen ausbreiten. Darauf lehnten die Schwächeren sich auf, und in der Dunkelheit ging das Gewimmel weiter, die Beine strampelten wieder in alle Richtungen. […] Man spürte das Gesicht unter dem Fuß oder den Fuß auf dem Gesicht. Das war ein Gebrüll in der Dunkelheit.“

Aus: Robert Antelme, Das Menschengeschlecht, Zürich 2017 [Paris 1947]. (Übersetzung aus dem Französischen von Eugen Helmlé für den Carl Hanser Verlag, 1987)