Bad Salzungen („Heinrich Kalb“)

20. Januar 1945 – Ende März 1945

Das Lager

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Westthüringen Salzgestein abgebaut. Ab Frühjahr 1944 rückte das Kalirevier an der Werra in den Fokus der Rüstungsindustrie. Die BMW Flugmotorenfabrik in Eisenach plante, Teile ihrer Produktion in unterirdische Kalischächte des Wintershall-Konzerns in der Nähe von Bad Salzungen zu verlagern. Hierfür richtete die SS Anfang 1945 zwei neue Außenlager in der Region ein. Die Bezeichnungen erhielten die Lager nach den Decknamen der Bauvorhaben, bei denen die Häftlinge arbeiten mussten: „Ludwig Renntier“ und „Heinrich Kalb“. Der Einsatzort der Häftlinge des Lagers „Heinrich Kalb“ war die Schachtanlage Heiligenroda III in Springen, rund 12 Kilometer nordwestlich von Bad Salzungen. Unter Tage in etwa 300 Meter Tiefe brachte die SS die Männer in einem großen Stollen einer stillgelegten Strecke unter. Dort herrschten katastrophale hygienische und sanitäre Bedingungen. Was anfänglich als Provisorium gedacht war, wurde zur dauerhaften Schlaf- und Aufenthaltsstätte. Nur in großen Zeitabständen konnten Gruppen von Häftlingen – nach Erzählungen sonntags – kurzzeitig an die Tagesoberfläche.

Die Häftlinge

Am 20. Januar 1945 trafen 500 Häftlinge aus dem KZ Buchenwald am Bahnhof in Dorndorf (Rhön) ein. Zu Fuß ging es von dort in die sieben Kilometer entfernte Schachtanlage Heiligenroda in Springen. Mehr als die Hälfte der Männer und Jugendlichen stammte aus der Sowjetunion und Polen, weitere größere Gruppen stellten Häftlinge aus Jugoslawien und dem damaligen Deutschen Reich, einschließlich Österreich. Die Übrigen kamen aus Frankreich, der Tschechoslowakei, Ungarn und weiteren Ländern. Sie trugen mehrheitlich den roten Winkel der politischen Häftlinge. Hinzu kamen Einzelne, die als Juden, Sinti und Roma bzw. als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Bis zur Räumung des Lagers blieb die Lagerbelegung relativ konstant. Als Lagerältesten setzte die SS den langjährigen politischen Häftling Karl Thomä aus Plauen in Sachsen ein. Mindestens zwölf Fluchtversuche sind aus dem Außenlager belegt. Zehn geflohene Männer wurden nicht wiederergriffen. Über ihren Verbleib ist nichts Näheres bekannt.

„Auf dem fast völlig leeren Zechenplatz stand schon eine Gruppe von Häftlingen. Von monatelanger Untertagearbeit waren ihre hohlwangigen Gesichter wächsernbleich geworden. Aus den tiefliegenden Augen flackerte noch immer die Angst vor dem Ungewissen, stierte der ewige Hunger.“
Walter Paul
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Bauleitung für die Einrichtung der unterirdischen Produktionsanlagen von BMW lag bei der „Organisation Todt“ (OT). Berichten zufolge beräumten die Häftlinge hauptsächlich den Abraum nach Sprengungen. Mit schweren Loren wurde das Kaligestein transportiert und verkippt. Des Weiteren mussten unter hohem Zeitdruck Planierungs- und Betonierungsarbeiten verrichtet werden. Die Häftlinge galten als ungelernte Hilfsarbeiter. Für Mitte März 1945 ist belegt, dass in zwei 6-Stundenschichten von 6 Uhr bis 12 Uhr bzw. von 12 Uhr bis 18 Uhr Zwangsarbeit geleistet wurde. In den von Häftlingen vorbereiteten Werkhallen kam es bis zur Räumung des Außenlagers „Heinrich Kalb“ zu keiner Produktion von Flugzeugmotoren bzw. -komponenten.

Krankheit und Tod

Als Häftlingsarzt setzte die SS den Mediziner Martins Kravainis aus Riga in Lettland ein. Wladimir Siwizkij aus Kirowograd (heute Kropywnyzkyj in der Ukraine) wurde als Pfleger bestimmt. Seitens der SS beaufsichtigte der SS-Sanitäter Willy August Carl die Krankenversorgung vor Ort. Ob es eine Krankenstation im Lager unter Tage oder oberirdisch gab, ist nicht bekannt. Kleinere Gruppen kranker Häftlinge ließ die SS zurück ins Hauptlager bringen. Der 33-jährige Jan Baran aus dem polnischen Żupawa war der erste Tote im Lager „Heinrich Kalb“. Er erlag wenige Tage nach der Errichtung des Außenlagers am 28. Januar 1945 einer Lungentuberkulose. Bis zur Räumung starben nachweislich neun Häftlinge. Zwei der Männer kamen während eines Rücktransports in das Hauptlager Buchenwald bei einem Tieffliegerangriff ums Leben. Die Leichname der vor Ort Gestorbenen wurden im Krematorium in Bad Salzungen eingeäschert und auf dem Husenfriedhof bestattet.

Bewachung

Für das Außenlager „Heinrich Kalb“ sind verschiedene Kommandoführer belegt. Zunächst stand ein nicht näher bekannter SS-Unterscharführer namens Schlaf an der Spitze der Wachmannschaft. Nach Aussagen misshandelte er Häftlinge brutal. Mitte März 1945 wurde er von einem SS-Hauptscharführer namens Kupfer abgelöst. Auch über ihn liegen bisher keine weiteren Informationen vor. Obwohl die Belegung des Lagers konstant blieb, vergrößerte sich die Wachmannschaft von 25 (Ende Januar) auf 38 (Ende Februar) und schließlich 49 SS-Männer (Ende März). Eine nicht genauer bekannte Funktion hatte ab März 1945 SS-Hauptsturmführer Paul Sporrenberg (1896-1961), der ehemalige Kommandant des SS-Sonderlagers Hinzert, für die beiden Außenlager in Bad Salzungen inne. Ermittlungsverfahren zu Verbrechen in den Außenlagern „Heinrich Kalb“ und „Ludwig Renntier“ blieben in den 1970er-Jahren ergebnislos.

Räumung

Ende März 1945 befanden sich 482 Häftlinge im Außenlager „Heinrich Kalb“. An welchem Tag die SS das Lager räumte, ist bisher nicht genau feststellbar. Truppen der U.S. Army trafen am 4. April 1945 in der Region um Springen ein. Die SS hatte die Häftlinge zuvor in Marschkolonnen über Ruhla, Arnstadt und Bad Berka in Richtung Weimar getrieben. Am Freitag, dem 6. April, erreichte eine Gruppe von 389 Männern das KZ Buchenwald. Das Schicksal der restlichen 93 Häftlinge ließ sich bisher nicht eindeutig klären. Berichten zufolge kam es unterwegs zu Fluchten. Männer, die nicht mehr laufen konnten, sollen in großer Zahl von den SS-Wachen erschossen worden sein.

Spuren und Gedenken

Die Schachtanlagen I bis III des Kaliwerks Heiligenroda wurden in den 1990er-Jahren weitgehend abgetragen. An einigen Orten der Umgebung wird an das Außenlager „Heinrich Kalb“ erinnert. Im Rathenau-Park in Bad Salzungen existiert seit 1956 eine monumentale Gedenkanlage mit einem Ehrenmal für die Opfer des Faschismus (KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen) in der Region. Ursprünglich auf dem Husenfriedhof sich befindende Urnen von mindestens drei Toten des Lagers „Heinrich Kalb“ wurden vermutlich Anfang der 1980er-Jahre dorthin umgebettet. Am ehemaligen Schacht Heiligenroda I in Springen verweist ein 1975 aufgestellter Findling mit Inschrift (diese zuletzt 2020 erneuert) auf das Außenlager. Schließlich erinnert seit 1985 ein Gedenkstein in der Gemeinde Frauensee an das Außenlager in Springen.

Link zum heutigen Standort des Schachtes Heiligenroda I und zum Gedenkstein in Springen auf GoogleMaps
Link zum Standort des Mahnmals im Rathenau-Park auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenksteins in Frauensee auf GoogleMaps

Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner
1/4
Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner
©Gedenkstätte Buchenwald
Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner
2/4
Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner ©Gedenkstätte Buchenwald
Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner
3/4
Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Rathenau-Park in Bad Salzungen, 2025. Foto: Stefan Lochner ©Gedenkstätte Buchenwald
Gedenkstein am ehemaligen Schacht I in Springen, 2025. Foto: Stefan Lochner
4/4
Gedenkstein am ehemaligen Schacht I in Springen, 2025. Foto: Stefan Lochner ©Gedenkstätte Buchenwald

Literatur:

Frank Baranowski, Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929-1945, 2. Auflage, Bad Langensalza 2017.


„Auf dem fast völlig leeren Zechenplatz stand schon eine Gruppe von Häftlingen. Von monatelanger Untertagearbeit waren ihre hohlwangigen Gesichter wächsernbleich geworden. Aus den tiefliegenden Augen flackerte noch immer die Angst vor dem Ungewissen, stierte der ewige Hunger.“

Walter Paul

Walter Paul kam am 4. Februar 1910 in Gelsenkirchen zur Welt. Der gelernte Kaufmann wurde mehrfach als politischer Gegner der Nationalsozialisten verhaftet, unter anderem wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Im Sommer 1943 wies die Gestapo ihn in das KZ Natzweiler ein. Über das KZ Dachau brachte ihn die SS Mitte Dezember 1944 schließlich nach Buchenwald. Er gehörte zu den Männern, die am 20. Januar 1945 in das neue Außenlager „Heinrich Kalb“ überstellt wurden. Dort fungierte er als Vorarbeiter. Unter dem Pseudonym Udo Dietmar veröffentliche Walter Paul bereits 1946 seine Erinnerungen an die KZ-Haft. Er starb 1974 in seiner Geburtsstadt Gelsenkirchen.



Read more