Pёtr Koržunkov

(1919-2002)

Pёtr Koržunkov, um 1940
Pёtr Koržunkov, um 1940 ©Jelena Rother

Biografie

Pёtr Koržunkov wurde am 12. Juli 1919 in einer Bauernfamilie bei Stavropol geboren. Als junger Mann trat er in die Rote Armee ein. 1942 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und kam nach einem Fluchtversuch in das KZ Groß-Rosen. Mit einem Räumungstransport aus dem Außenlager Gassen gelangte er Mitte Februar 1945 völlig entkräftet nach Leipzig-Thekla. Bei der Räumung des Lagers blieb er mit den Kranken zurück. Pёtr Koržunkov überlebte mit Glück das Massaker von Abtnaundorf. Nach seiner Genesung diente er ein weiteres Jahr in der Roten Armee. 1947 kehrte er in die Sowjetunion zurück und arbeitete als Fotograf und Künstler. Er starb 2002 in Ust-Bargusin am Baikalsee.

Aus den Erinnerungen von Pёtr Koržunkov

Das Massaker von Abtnaundorf
„Die Stadt wurde nicht mehr bombardiert, sie erstarb im Blockadering. Wir indes starben vor Hunger, umringt von elektrischem Stacheldraht, Maschinengewehren auf den vier Wachtürmen, einer Handvoll Alter mit Maschinenpistolen und zwei sadistischen SS-Peinigern.

Dann kam der 18. April. Man entschied, uns heiße Kartoffeln zu essen zu geben. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, reihte sich in die Essensschlange ein. Jeder erhielt exakt zwei Kartoffeln.

Auch am nächsten Tag bot man uns zuvorkommend ein Paar der rettenden Erdäpfel an. Wir standen jedoch noch nicht einmal in der Schlange der Essensausgabe, als ein SS-Henker angelaufen kam, uns anbrüllte und mit seiner Peitsche zurück in die Baracke jagte. Auch die deutschen Alten kamen angelaufen und befahlen: ‚Die Fenster zudeckelen!‘ Wir sollten die Fenster also mit unseren Bettdecken verhängen. Aber warum? Das hatte es noch nie gegeben. Die Polen waren scharfsinnige Leute, sie schlossen daraus sofort, dass man uns den Amerikanern übergeben wolle. Ich hörte mir ihr Geschwätz nicht weiter an und begab mich zu meiner Pritsche. Im unteren Bett lag ein Kamerad im Sterben. Er bat mich, im Fall der Fälle …

Doch weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick ertönten Schreie: ‚Es brennt!‘ Ich roch den Rauch, trat ans Fenster und schob die Decke ein wenig zur Seite. Ich wollte sehen, was auf dem Lagerhof vor sich ging, doch just in diesem Moment gab es eine starke Detonation und ich verlor das Bewusstsein.

Kurz darauf kam ich wieder zu mir, mir dröhnte der Schädel und ich tastete ihn mit den Händen ab. Meine Hände waren voller Blut, es lief mir aus der Nase und den Ohren, die Detonation der Faustpatrone hatte eine starke Erschütterung ausgelöst. Doch zu meinem Glück war ich mit einem Schutzschild aus Holz bedeckt: Ein Holzbrett hatte sich durch die Explosion von der Barackenwand gelöst, sich mit seinem oberen Ende in das doppelstöckige Bettgestell gebohrt und mir so das Leben gerettet. Gleichzeitig loderten Flammen in der Baracke auf. Durch das tosende Feuer hindurch hörten wir Schüsse, die aus Maschinengewehren und Maschinenpistolen abgefeuert wurden. Sie zielten auf jene, die wagemutig genug waren, aus ihren Baracken herauszulaufen. Ich selbst war durch die Detonation der Panzerfaust zwar geschwächt, doch meine Angst und mein unbändiger Wille, am Leben zu bleiben, trieben mich an, mich zu retten. Ich bemerkte, dass das Fenster mir gegenüber durch die Detonationswelle herausgedrückt worden und in Richtung des Stacheldrahts geflogen war. Ohne zu zögern kroch ich zu der Fensteröffnung, während der Rauch mir den Atem nahm. Das Pfeifen der Kugeln, die die Barackenwände durchbohrten, hörte ich nicht einmal mehr. Ich kroch über leblose Körper hinweg, die dicht gedrängt am Barackenfenster lagen; Kameraden, die nicht mehr in der Lage gewesen waren, den halben Meter zu überwinden, der sie von jenem Außenbereich trennte, an dessen Rand zwei Reihen Stacheldrahtzaun standen, jeder mindestens vier Meter hoch und elektrisch geladen.

Ich kroch weiter, folgte aber nicht mehr meinem gesunden Menschenverstand, sondern nur noch meinem Instinkt, ich wollte mein Leben retten. Ich kroch über einen Haufen sich noch regender und kraftlos stöhnender Körper hinweg. Ein Häftling, der hinter mir her kroch, klammerte sich an meine Beine, doch es gelang mir, mich aus diesem todbringenden Griff zu lösen und aus dem Fenster fallen zu lassen, das bereits in Flammen stand. Ich versengte mir das Gesicht und die Hände, aber ich spürte keinen Schmerz. Beharrlich kroch ich weiter bis zum ersten Stacheldrahtzaun und hatte bereits vergessen, dass er unter Hochspannung stand. Doch zu unserem Glück gab es in der Stadt schon lange keinen Strom mehr. Nachdem ich den ersten, vier Meter hohen Verhau bezwungen hatte, musste ich durch drei Reihen ausgerollten Stacheldrahts hindurchkriechen, bevor ich auch den äußeren Zaun überwand. Das alles im schwarzen, stickigen Rauch des Feuers und inmitten des Kugelhagels, welcher die Rauchschwaden durchsiebte, die sich über das gesamte Lager ausgebreitet hatten.“

Unerwartete Hilfe
„Als ich mich entfernte, um einen sicheren Abstand [Anm.: zum Lager] zu gewinnen, erblickte ich einen Bauern, der sein Feld pflügte. Er brachte die Pferde zum Stehen und winkte mich heran. Als ich den Abstreifer in seiner Hand sah, mit dem er die Pflugscharen reinigte, fürchtete ich, er würde damit auf mich einschlagen. Doch er rief mich ein weiteres Mal zu sich und sagte dabei freundlich: ‚Hab keine Angst.‘ Ich trat näher und stellte fest, dass er kein Deutscher war. Ich erkannte in ihm meinen tschechischen Lagerarzt. Mit ausdrucksvoller Gestik gab er mir zu verstehen, dass ich rasch zum russischen Frauenlager [Anm.: einem Lager mit sowjetischen Zwangsarbeiterinnen] laufen solle. Dort könne ich mich verstecken und würde nicht in die Fänge der SS geraten, die alles durchforstete, nach Geflüchteten suchte und sie direkt vor Ort erschoss. Ich schlug sofort die von ihm gewiesene Richtung ein und erblickte schon bald die Baracken, in denen Russinnen untergebracht waren, die zur Zwangsarbeit nach Hitlerdeutschland verschleppt worden waren.

Als ich mich den Baracken näherte, sah ich eine Gruppe von Frauen, die das weithin sichtbare Feuer beobachteten. Als ich näher auf sie zuging, erkannten sie bereits an meinem Äußeren, dass es das Konzentrationslager war, das brannte, und begannen zu wehklagen: ‚Was haben diese Verfluchten nur mit euch gemacht?!‘ Sofort griffen sie mich unter, führten mich in die Baracke, nahmen mir meine gestreifte Kleidung ab, gaben mir zu essen und legten mich ins Bett. Wenig später hatten sie Zivilkleidung für mich aufgetrieben und forderten mich auf, mich zu waschen und umzuziehen, damit ich nicht wie ein Häftling aussah.“

Aus: Erinnerungsbericht von Pёtr Koržunkov, ohne Datum. (Gedenkstätte Buchenwald) (Übersetzung aus dem Russischen)