Jean-Claude Stewart

(geb. 1918)

Jean-Claude Stewart nach seiner Ankunft im KZ Buchenwald (Ausschnitt der Häftlingspersonalkarte), Mai 1944
Jean-Claude Stewart nach seiner Ankunft im KZ Buchenwald (Ausschnitt der Häftlingspersonalkarte), Mai 1944 ©Erkennungsdienst der SS (Arolsen Archives)

Jean-Claude Stewart kam am 7. Dezember 1918 in Montreal, Kanada, zur Welt, wuchs aber in Frankreich auf. Der gelernte Maurer schloss sich 1942 der Résistance an und wurde im März 1944 verhaftet. Einen Monat später erfolgte seine Deportation nach Auschwitz und Mitte Mai 1944 die Verlegung nach Buchenwald. Die SS brachte ihn zunächst in das Außenlager Schönebeck und im März 1945 nach Leopoldshall. Bei der Räumung des Lagers floh er, wurde gefasst und schließlich in einem Kriegsgefangenenlager befreit. Nach dem Krieg heiratete Jean-Claude Stewart und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Ofensetzer in Frankreich und Nordafrika. 1993 veröffentlichte er seine Lebensgeschichte.





„Es herrscht Gedrängel, vor allem wenn es regnet, wir stehen mit nacktem Oberkörper da, und Anfang März ist es mitten in Deutschland nicht wie an der Côte d’Azur.“

Aus den Erinnerungen von Jean-Claude Stewart

Das Lager
„Ein ganz kleines Lager, eine große Baracke für die 184 Häftlinge, 160 Russen bzw. Polen und die 24 Franzosen, die an diesem Tag eintreffen, eine Lager- und Gerätebaracke, eine Schlaf- und SS-Bürobaracke, eine Küchenbaracke, vier Baracken insgesamt. Drei müssen noch gebaut werden, für die die Erdarbeiten fertig sind und die nur auf die Maurer warten für den Bau der Fundamente […]. Die 24 Franzosen werden ins hintere Eck der Baracke verfrachtet, in dreistöckige ‚Bettstellen‘. Wecken morgens um fünf, die Türen der Baracke gehen auf, in der wir die ganze Nacht über mit Vorhängeschloss einsperrt sind, solange die Stromleitungen für den Stacheldrahtzaun noch nicht fertig verlegt sind. Auf zum blechernen Waschbecken unter freiem Himmel, das zwar mindestens vier Meter lang ist, aber auch das einzige für alle Mann. Es herrscht Gedrängel, vor allem wenn es regnet, wir stehen mit nacktem Oberkörper da, und Anfang März ist es mitten in Deutschland nicht wie an der Côte d’Azur.“

Die Arbeit im Baukommando
„Ein Riesenhaufen Ziegel ist angeliefert worden, Sand auch. Ein recht betagter Deutscher in Zivil, der ‚Meister‘, der ein dickes Abzeichen mit Hakenkreuz im Knopfloch trägt, weist uns die Arbeit zu. Wir machen uns an die Ziegelmauern für drei neue Baracken, direkt in Bodenhöhe. Die Arbeiten kommen langsam in Gang, wir stellen uns gut an, aber der Zivile brüllt, er kann ein paar Brocken Französisch und droht uns damit, die SS-Leute zu holen, um uns Beine zu machen. Ich frage ihn: ‚Wo haben Sie Französisch gelernt?‘ – ‚In Frankreich, im Ersten Weltkrieg, ich war in Gefangenschaft!‘“

Läuse
„Beim Aufwachen, ich schlafe nackt, juckt es mich ‚am Penis‘, ich kratze mich, Schweißausbruch, ich denke an Bandwürmer, setze mich auf und sehe nach, rund ein Dutzend riesiger Läuse tummeln sich bei mir im Schritt, mit einem Satz fahre ich hoch, so dass sie auf dem Boden landen, und zertrete sie mit richtiggehender Panik im Bauch. Es ist bekannt, in den Konzentrationslagern gibt es außer Schlägen und Durchfall, der einem innerhalb von 36 Stunden den Garaus macht, auch ‚Läusetyphus‘: Tod binnen 24 Stunden, mit Ödem am Herzen, sofortiger Tod. Das sind die drei Geißeln, die uns ängstigen, zusätzlich zu dem von Menschen herbeigeführten Tod. Aber mehr noch als der Horror vor Typhus ist es bei den Läusen der Ekel. In Leopoldshall gibt es auch nie Visitationen wegen Läusen und erst recht keine Desinfektion der Kleidung, keine Duschen.“

Die Räumung des Lagers
„Den Ostertag 1945 werde ich so bald nicht vergessen. Drei Tage später verlege ich eine kleine Fläche Zementestrich auf den beiden Eingangsstufen zum Büro des SS-Lagerkommandanten, der in Wirklichkeit nur den Rang eines Adjutanten hat. Der öffnet die Tür und sagt in bestem Französisch zu mir: ‚Kommen Sie herein, ich möchte mit Ihnen reden.‘ Ich mache große Augen, er ist der erste SS-Mann, der mich auf Französisch anspricht, ich bin überrascht und vor allem misstrauisch, was sich dahinter verbergen mag. Er sagt zu mir: ‚Ich weiß, dass Sie Anführer sind bei den Franzosen, für die ich eine Menge übrighabe, weswegen ich auch gerne hätte, dass Sie mit Ihren Kameraden beisammenbleiben, der Krieg geht dem Ende zu, ich möchte Sie alle persönlich zurück nach Frankreich bringen. Ich bin Rheinländer, ganz aus Ihrer Nähe also, gleich bei Frankreich. Mein Haus wurde ausgebombt, Frau, Kinder, Eltern sind tot. Ich habe alles verloren, ich würde das gern tun für die Franzosen.‘ […]

11. April 1945, 6 Uhr morgens, Lastwagen fahren vor und bleiben geordnet vor uns stehen. Alle Mann antreten wie jeden Tag vorm Abmarsch zur Arbeit. Was geht da vor sich? Ich bin etwas überfordert von den Geschehnissen, nichts scheint so abzulaufen, wie ich es mir erhofft hatte, ich hatte den Kameraden erklärt, was der SS-Mann angeboten hatte, und jetzt sieht alles ganz anders aus. […] Ich habe mich von netten Worten ganz schön verschaukeln und einlullen lassen. Er hat mich übers Ohr gehauen, weil er vor allem sichergehen wollte, dass sein Kommando vollzählig antrat.“

Aus: Jean-Claude Stewart, Ma famille, ma jeunesse, ma vie, Paris 1993, S. 185 ff. (Übersetzung aus dem Französischen)