
Aimé Bonifas kam am 26. Januar 1920 im algerischen Tirman zur Welt. Er studierte Jura in Montpellier, als er sich der Résistance anschloss. Bei dem Versuch, die Grenze nach Spanien zu übertreten, um sich den französischen Truppen in Nordafrika anzuschließen, wurde er verhaftet. Im September 1943 deportierte ihn die Gestapo nach Buchenwald und von dort zunächst in das Außenlager Schmiedebach („Laura“). Im Sommer 1944 kam er in das Außenlager Mackenrode und später nach Osterhagen. Im April 1945 floh er von einem Todesmarsch. Er kehrte nach Frankreich zurück, studierte Theologie, wurde Pfarrer in Nîmes und engagierte sich in Überlebendenverbänden. Aimé Bonifas starb 2013 in Nîmes.
Aus den Erinnerungen von Aimé Bonifas
Ankunft im Lager
„Am Spätnachmittag, nachdem wir ununterbrochen etwa 25 Kilometer marschiert sind, kommen wir in dem Dorf Mackenrode an. Mitten auf einer Wiese erwartet uns eine von Stacheldraht vier Wachttürmen umgebene Baracke. Dieses ganz kleine Lager macht einen recht guten Eindruck […].
Das Lager besteht erst seit einem Monat und umfasst dreihundert Häftlinge, unter ihnen nicht wenig Franzosen. Ein Block ist eingerichtet, ein anderer im Bau. Bis die Herbstregen den Boden aufweichen, ist die Wiese ein ganz angenehmer Aufenthalt, dann wird sie ein unpassierbarer Sumpf.
Die Einrichtung des Lagers ist sehr lückenhaft und macht den Eindruck des Provisorischen im Vergleich zu den endgültig eingerichteten großen Städten unter den Konzentrationslagern. Ein Brunnen liefert uns in sehr beschränktem Umfang Trinkwasser. Wir machen ein wenig Toilette und waschen gleichgültig unsere Kochgeschirre in einer Art Schlammwasser, das sehr selten erneuert wird. Instinktiv sammeln sich die Franzosen in derselben Ecke des Blocks. Wir müssen zu zweit auf einer Pritsche schlafen, denn der Platz ist beschränkt. Mein Nachbar, ein Mann aus Lille, riecht schlecht und hat manchmal nächtliches Bettnässen. Das sind die kleinen Unzuträglichkeiten des Zusammenlebens.“
Zwangsarbeit
„Am nächsten Morgen nach dem Appell werden die Arbeitskommandos zusammengestellt. Unweigerlich sind die undankbarsten Posten für die Neuangekommenen bestimmt. Ein Kapo erklärt, dass er starke Männer braucht. Da ich von Ödemen gedunsen bin, schickt er mich auf Kommando 1, das härteste Kommando, das Waldkommando. Wir marschieren drei Kilometer und kommen in einen schönen Buchenwald, in dem riesige Bäume geschlagen sind. Nach einer sehr kurzen Erklärung müssen wir sofort unter Anleitung eines stark schielenden Meisters und angetrieben von einem Kapo, der ostentativ mit seinem Knüppel herumspielt, alle Zweige von den Bäumen abhacken und in regelmäßigen Haufen aufschichten. Doch das ist nur eine Vorbereitungsarbeit. Am Boden liegt eine erhebliche Anzahl riesiger Stämme, und man macht uns klar, dass wir auch sie von hier fortschaffen müssen. Während wir uns noch fragen, mit welchen Hebeln und mit welchem Rollensystem wir sie vom Platz bewegen könnten, stürzt sich der Kapo auf uns, schäumend, sichtlich empört, weil wir nicht verstehen, dass wir sie mit unseren eigenen Armen wegbringen müssen. […]
Unter einem Hagel von Faustschlägen und Fußtritten müssen wir uns die Technik der großen Sklavenarbeiten aus der Antike aneignen. Mit Hilfe von Knüppeln, die wir so dicht hintereinander, wie unsere eng aufgeschlossene Reihe nur irgend zulässt, unter dem Stamm durchstecken und die wir zu zweit an jeder Seite anpacken, fünfzig oder sechzig Mann pro Stamm, gelingt es uns, den Stamm hochzuheben und an den gewünschten Platz zu bringen. Was für ein Unternehmen! […]
Ein neues Arbeitskommando, die 16, wird gebildet, und man steckt mich dort hinein. Wir müssen am Morgen acht Kilometer zu Fuß zurücklegen, um zu unserem Arbeitsplatz zu kommen, und natürlich eben so viel am Abend bei der Rückkehr. Dieser Marsch ist allein wegen unseres schlechten Schuhwerks eine Strapaze, ganz abgesehen von unserer Erschöpfung nach den schweren Erdarbeiten. Die Trasse für die künftige Eisenbahn geht hier mitten durch die Felder. Jedem von uns ist ein bestimmtes kontrolliertes Soll gesetzt. Wir müssen zu zweit eine gewisse Anzahl von Loren füllen, 25 bis 30 Kubikmeter Erde am Tag. Das ist ungeheuerlich, denn der Boden ist hart, steinig und muss zuerst mit der Hacke aufgelockert werden. Wir schlagen mit unseren Hacken in diese verfluchte deutsche Erde! Ich kann noch ganz gut zuschlagen, aber viele Kumpels werden zusehends schwächer. Was werden sie machen, wenn wir noch einen Winter unter diesen Bedingungen zubringen müssen? Die Arbeit strengt uns schrecklich an, und der Hunger wird wieder wie eine Besessenheit. Es wäre unbedingt nötig, das Tempo unserer Erdarbeiten zu verlangsamen, aber wir werden zu stark überwacht. Man könnte sogar sagen, dass einige besonders hastig arbeiten, um die anderen in Schwierigkeiten zu bringen. Auch schon in Laura konnte ich beobachten, wie einige Häftlinge sich umbringen mit der Arbeit, auch wenn sie weniger hätten tun können, arme verängstigte oder zu Robotern des Systems gewordene Kerle! Wir merken sie uns gut, denn dadurch, dass sie die Arbeitsleistung hochschrauben, werden sie unfreiwillig unsere Feinde. Die meisten mehren nur ihr eigenes Unglück und halten nicht lange durch.“
Gespräche
„Wir Franzosen stehen in dem Ruf, geschwätzig zu sein, und wir sind es. Wir suchen alle Gelegenheiten, uns zu treffen und miteinander zu sprechen. Die Themen unserer Gespräche sind ganz verschieden, aber jeder spricht gern und oft von seiner Heimat und seinem Beruf. Gesellschaftliche Konventionen spielen keine Rolle mehr, niemand drückt sich geschwollen aus. Hier konnte ich meine Menschenkenntnis erweitern und Einblick in mancherlei Lebenssphären tun, die ich noch nicht kannte. Ich kam in Berührung mit Journalisten, Offizieren, Kaufleuten, Politikern, Arbeitern, Bauern, aber auch mit Zuhältern und internationalen Schiebern.“
Begegnungen
„Unsere Baustelle geht durch mehrere Dörfer. Die wenigen Einwohner, die sich auf unserem Weg sehen lassen, bezeigen uns nur Verachtung. Einmal spuckt uns ein junges Mädchen an. Von Zeit zu Zeit sehen wir auch einige französische Kriegsgefangene. Sie versuchen, uns Mut zuzusprechen. ‚Nur noch kurze Zeit, Jungens, sie laufen!‘ Manchmal, bei kleinen Arbeitskommandos, wo der Posten unvorschriftsmäßig ein Auge zudrückt, können sie an die Unsrigen herankommen, mit ihnen sprechen und ihnen sogar einige Brotschnitten zustecken.“
Aus: Aimé Bonifas, Häftling 20801, Berlin 2015 [Nîmes 1966]. S. 68 f.