Orna Birnbach

(geb. 1928)

Orna Birnbach, undatiert (nach 1946)
Orna Birnbach, undatiert (nach 1946) ©Gedenkstätte Buchenwald

Orna Birnbach wurde am 19. Juni 1928 als Erna Blauer im polnischen Włocławek als einziges Kind in eine jüdische Familie geboren. Die deutschen Besatzer zwangen die Familie, in das Ghetto von Tarnów zu ziehen. Ab September 1943 musste die Familie im Arbeitslager Płaszów bei Krakau arbeiten. Im August 1944 deportierte die SS Orna nach Auschwitz-Birkenau, wo sie von ihrer Mutter getrennt wurde. Von dort kam die 16-Jährige Ende Oktober 1944 zur Zwangsarbeit nach Mühlhausen. Todkrank erlebte sie die Befreiung im KZ Bergen-Belsen. Über Frankreich emigrierte sie 1946 nach Palästina, wo sie vom Überleben ihrer Mutter erfuhr. In ihrer neuen Heimat baute sie sich ein Existenz auf und gründete eine Familie. In den 1960er- und 1970er-Jahren sagte sie wiederholt in Prozessen in Deutschland gegen NS-Täter aus.





„Als ich auf dem Weg nach Mühlhausen war, sagte ich mir, daẞ ich jetzt alleine zurechtkommen muẞ, wenn ich überleben will.“

Aus den Erinnerungen von Orna Birnbach

Nach Mühlhausen
„Ich kann mich an diesen Weg nicht mehr so genau erinnern. Zum ersten Mal war ich ohne meine Mutter, ganz allein. Mit meinen Eltern zusammen war ich sehr passiv. Ich wusste, ich habe meine Eltern. Als ich auf dem Weg nach Mühlhausen war, sagte ich mir, dass ich jetzt alleine zurechtkommen muss, wenn ich überleben will. […]

Wir kamen an auf dem Bahnhof und fuhren mit der Straßenbahn weiter. Ich habe den ganzen Weg geweint. Eine Frau kam und gab mir eine Scheibe Brot, obwohl sie damals selbst nichts hatte. Zum ersten Mal nach fünfeinhalb Jahren gab mir ein Mensch ein Stück Brot. Man brachte uns in den Gerätebau. Es gab Pritschen, aber es gab auch eine Wasserleitung und WCs in den Baracken. Es waren zweistöckige Pritschen. In einem Zimmer waren 10 Mädchen.“

In der Fabrik
„Man hat uns sofort in zwei Schichten eingesetzt. Ich habe nur nachts gearbeitet, warum weiß ich nicht. In einer unterirdischen Fabrik stellten wir Präzisionsinstrumente her. Ich war nie technisch veranlagt, hatte zwei linke Hände. Meine Mutter hat immer gesagt: ,Du hast alles im Kopf und in den Händen gar nichtsʼ. Ich war seelisch zerbrochen, hungrig und müde.

Eine große Maschine … Der Kapo [Anm.: gemeint ist vermutlich ein deutscher Vorarbeiter] hat mich nach meinem Namen gefragt, ich wusste gar nichts mehr. Die beiden Kapos dort waren um die 60 Jahre alt, keine jungen Menschen mehr. Mit viel Geduld hat er mir alles erklärt. Sie haben in einer Kantine gegessen. Sehr oft hat er sein Essen mit mir geteilt. Dort habe ich gelernt, dass sich die Deutschen auch ganz anders benehmen. […]

Dort gab es keine Erschießungen, Erhängungen, Ermordungen. Es gab eine kleine Krankenstube. Meine Freundin, Frau Adler, ihre Mutter ist mit meiner Mutter in Auschwitz geblieben, sie war schon dort sehr schwach. Sie kam in Mühlhausen gleich in die Krankenstube. Sehr oft hat man sie mit Kraft zur Arbeit mitgenommen. In der Küche hat sie Kartoffeln geschält. […] Unsere Lagerälteste Sarenka sagte: ,Wenn du leben willst, sei gesund und geh zur Arbeitʼ. Sie konnte nicht, aber sie hat in der Küche Kartoffeln geschält, nicht für uns, sondern für die Deutschen. Wir haben die Schalen bekommen.“

Leben im Lager
„Ich war immer die Jüngste. Es waren schon viele verheiratete Frauen [unter uns], zwei hatten ihre Kinder verloren. Sie lagen auf den Pritschen und haben erzählt. Wir hatten sehr großen Hunger. Es gab eine Frau Jäger mit ihrer Tochter, die Sinn für Humor hatte, sie hat Witze erzählt. Wir haben auch sehr viel gesungen. […]

Noch heute sehe ich die singenden Mädchen, die nicht mehr am Leben sind. Sie haben auch von Filmen erzählt. Aber auch hier kam man immer wieder auf das Essen zurück. […] Ich teilte meine Pritsche mit meiner Freundin, die nicht mehr am Leben ist. Sie konnte keinen Hunger aushalten. Einen Scheibe Brot haben wir erhalten, die Hälfte davon habe ich für den Abend aufgehoben, versteckt unter dem Kissen. Als ich es essen wollte, war es nicht mehr da. Ich wusste, es war meine Freundin gewesen, obwohl sie geschworen hat, dass sie es nicht war. Nach dem Krieg hat sie mir gesagt, dass sie es doch gewesen ist.“

Von Mühlhausen nach Bergen-Belsen
„Wir wollten bleiben und hatten das Gefühl, wir fahren in den Tod. In offenen Kohlenwaggons. […] Es ging alles sehr schnell. Ich denke, es war Nacht. Wir dachten zuerst, die Alliierten sind schon da. Wir sind nach Celle gefahren. Von dort ging es zu Fuß im Schnee nach Bergen-Belsen. Auf unserem Fußmarsch nach dort begegnete uns ein Männertransport, von wo er kam, weiß ich nicht. Das waren auch Männer aus Łódź. Ein Ehepaar hat sich dort getroffen. Das hat ihr so viel Mut gegeben. Wenn mein Vater gewusst hätte, dass Mutter und ich Auschwitz überlebten, er hätte auch überlebt. Wenn man weiß, es gibt noch Hoffnung, dann kämpft man. Diese Frau hatte Typhus, aber sie hat überlebt, nur ihr Mann nicht.“

Aus: Interview mit Orna Birnbach aus dem Jahr 2000. (Gedenkstätte Buchenwald)