Neustadt bei Coburg (Frauen)

9. September 1944 – 6. April 1945

Das Lager

Die Siemens-Schuckertwerke AG gründete 1936 die Kabel- und Leitungswerke AG (KALAG) mit Sitz in Neustadt bei Coburg an der thüringisch-bayerischen Grenze. Die neue Fabrik zur Herstellung von Kabeln befand sich in der Austraße 99, südlich des Stadtzentrums. Ab September 1944 setzte das Unternehmen in Neustadt weibliche KZ-Häftlinge ein. Das neu eingerichtete Außenlager wurde vom Konzentrationslager Buchenwald verwaltet. Als Unterkünfte dienten umzäunte Baracken auf dem Werksgelände. Überlebenden zufolge waren die Unterkünfte in Räume für 30 bis 35 Personen unterteilt. Zur Ausstattung gehörten Etagenbetten mit Decken, Öfen und fließendes Wasser. Für die Öfen war im Winter 1944/45 jedoch nicht ausreichend Heizmaterial vorhanden.

Die Häftlinge

Am 9. September 1944 trafen 400 Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück in Neustadt ein. Etwa zwei Wochen später folgte ein zweiter Transport mit drei Frauen, die in der Krankenstation eingesetzt wurden. Die Belegung des Lagers blieb konstant. Acht Frauen, die als nicht mehr arbeitsfähig galten, brachte die SS im Januar und März 1945 nach Bergen-Belsen, im Austausch für andere Frauen. Insgesamt durchliefen somit 411 Frauen das Lager in Neustadt. Die überwiegende Mehrheit von ihnen war als Jüdinnen im Frühjahr 1944 aus Ungarn nach Auschwitz und später nach Ravensbrück deportiert worden. Drei Frauen galten als polnische Jüdinnen und drei weitere als nicht-jüdische politische Häftlinge. Die Buchenwalder SS führte das Lager als „jüdisches Außenlager“. Die Frauen waren durchschnittlich 28 Jahre alt – Eva Wiess aus dem ungarischen Boldogköváralja mit 16 Jahren die Jüngste, Maria Pruszynska aus dem polnischen Kamarów mit 53 Jahren die Älteste. Unter den Frauen befanden sich Geschwister wie Klara und Erzsebeth Szabo aus der Nähe von Pécs (Ungarn) und Mütter mit ihren Töchtern wie Eva und Margit Schönfeld aus Zalabér (Ungarn).

„Ab Januar 1945 wurden die Rationen geringer, wir bekamen nur noch drei Kartoffeln und die letzten Tage im März kein Brot mehr.“
Anne-Marie de La Morlais
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Zwangsarbeit

Die Frauen mussten für die KALAG Zwangsarbeit leisten. Unter der Aufsicht von zivilen Meistern und Ingenieuren bedienten sie Trommel- und Verseilmaschinen oder überprüften die Qualität der Kabel. Sie alle galten als ungelernte, billige Arbeitskräfte. Bis Anfang November 1944 waren etwa 45 Frauen als Lehrlinge eingestuft, danach wurden sie wie die übrigen Häftlinge als Hilfskräfte betrachtet – während die Firma pro Hilfsarbeiter und Arbeitstag vier Reichsmark an die SS zahlte, lagen die Sätze für Lehrlinge noch niedriger. Es gab Tag- und Nachtschichten von 6.30 Uhr bis 17.15 Uhr und von 18.30 Uhr bis 6.30 Uhr mit jeweils 40 Minuten Pause. Sonntags arbeiteten die Frauen in der Regel verkürzt. Nur im September, November und Dezember 1944 waren einige Sonntage arbeitsfrei.

Krankheit und Tod

Für die medizinische Versorgung vor Ort wurde die polnische Medizinerin Maria Pruszynska als Häftlingsärztin eingesetzt und von zwei Mithäftlingen unterstützt: der deutschen Fürsorgerin Emmy Dörfel und der Französin Anne-Marie de la Morlais. SS-Unterscharführer Eger beaufsichtigte das Lager als Sanitäter und der Betriebsarzt Dr. Alfred Karcher war als Vertragsarzt zuständig. Im März 1945 wurden täglich zwischen 15 und 37 Kranke registriert (im Durchschnitt etwa 25). Zu den behandelten Krankheiten und Verletzungen zählten Grippe, Magenentzündungen, Rheuma und Brandwunden. Todesfälle sind für das Außenlager in Neustadt nicht dokumentiert.

Die Bewachung

Die Wachmannschaft in Neustadt bestand aus 22 SS-Aufseherinnen, die zuvor in Ravensbrück eine Ausbildung absolviert hatten, und 13 SS-Männern. Namentlich bekannt ist die Oberaufseherin Anna Thoenissen (geb. 1901). Die Leitung des Außenlagers oblag dem Kommandoführer SS-Oberscharführer Johann Maronowski, über den nichts Näheres bekannt ist. Aufseherinnen, die im April 1945 im Zuge der Auflösung des Lagers Neustadt nicht verlassen wollten, wurden von amerikanischen Truppen verhaftet und bis zu drei Jahre interniert. Ermittlungsverfahren in den 1960er-Jahren wegen Verbrechen in Neustadt bei Coburg blieben ergebnislos.

Räumung

Die SS räumte das Außenlager in Neustadt bei Coburg am 6. April 1945. Dabei weigerte sich eine unbekannte Zahl von Aufseherinnen, die Stadt zu verlassen. Die 403 Häftlinge, die sich zu diesem Zeitpunkt vor Ort befanden, mussten ostwärts marschieren. Über Kronach, Münchberg und Paulusbrunn erreichten sie einige Tage später die Tschechoslowakei. Bei der Stadt Domažlice wurde der Marsch aufgelöst. Wie viele Frauen den Todesmarsch nicht überlebten und wie viele unterwegs fliehen konnten, ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, dienten nach dem Krieg als Unterkünfte für Flüchtlinge und wurden danach abgerissen. Am Eingang des ehemaligen Lagerareals – heute das Gelände des Kabelherstellers Prysmian – erinnert ein Mahnmal an die Existenz des Außenlagers.

Link zum heutigen Standort und zum Standort des Denkmals auf GoogleMaps

Kontakt:
Stadtarchiv Neustadt bei Coburg
Georg-Langbein-Straße 1
96465 Neustadt bei Coburg
Telefon: 09568 810
E-Mail: rathaus@neustadt-bei-coburg.de

Literatur:

Rainer Axmann, Neustadt bei Coburg, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 533-534.

Isolde Kalter, Éva Jenöné Kovács und Györgyné Barnai, zwei Ungarinnen im Neustadter Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, in: Gaby Franger (Hg.): „Seien Sie doch vernünftig!“ Frauen der Coburger Geschichte, Coburg 2008, S. 238-247.


Anne-Marie de La Morlais in Uniform der französischen Armee, 1945
Anne-Marie de La Morlais in Uniform der französischen Armee, 1945 ©Sammlung Jean-Claude Naulet mit der freundlichen Genehmigung von Claude Cochin
„Ab Januar 1945 wurden die Rationen geringer, wir bekamen nur noch drei Kartoffeln und die letzten Tage im März kein Brot mehr.“

Anne-Marie de La Morlais

Anne-Marie de Coynart wurde am 19. Oktober 1894 im französischen Dreux als Tochter einer katholischen Adelsfamilie geboren. Im Ersten Weltkrieg engagierte sie sich als Krankenschwester für das Rote Kreuz und nach ihrer Heirat mit dem Offizier Armand des Prez de La Morlais als Fürsorgerin. Im Jahr 1942 beteiligte sie sich am Aufbau eines Betreuungssystems für französische Zwangsarbeiter in Deutschland. Im September 1943 verhaftete die Gestapo die achtfache Mutter wegen angeblicher Spionage und deportierte sie im April 1944 nach Ravensbrück. Von September 1944 bis Anfang April 1945 war sie Häftlingspflegerin in Neustadt. Bei der Räumung des Lagers gelang ihr die Flucht. Nach dem Krieg arbeitete sie einige Jahre als Sozialberaterin in der französischen Armee. Anne-Marie de La Morlais starb 1967.



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