
Anne-Marie de Coynart wurde am 19. Oktober 1894 im französischen Dreux als Tochter einer katholischen Adelsfamilie geboren. Im Ersten Weltkrieg engagierte sie sich als Krankenschwester für das Rote Kreuz und nach ihrer Heirat mit dem Offizier Armand des Prez de La Morlais als Fürsorgerin. Im Jahr 1942 beteiligte sie sich am Aufbau eines Betreuungssystems für französische Zwangsarbeiter in Deutschland. Im September 1943 verhaftete die Gestapo die achtfache Mutter wegen angeblicher Spionage und deportierte sie im April 1944 nach Ravensbrück. Von September 1944 bis Anfang April 1945 war sie Häftlingspflegerin in Neustadt. Bei der Räumung des Lagers gelang ihr die Flucht. Nach dem Krieg arbeitete sie einige Jahre als Sozialberaterin in der französischen Armee. Anne-Marie de La Morlais starb 1967.
Aus den Erinnerungen von Anne-Marie de La Morlais
Von Ravensbrück nach Neustadt
„In Ravensbrück wurden wir eines Morgens nach dem Appell abgeholt, ich wurde schnell zu den Duschen geschickt, wo ich die Ärztin Pruszynska und die deutsche Krankenschwester Emmy Dörfeld, die seit vier Jahren als politische Gefangene inhaftiert war, wiederfand.
Wir wurden zu einer Fabrik, den Kabelwerken Siemens in Neustadt bei Coburg, gebracht. Wir bekamen für die Reise 250 Gramm Brot und 50 Gramm Wurst, unsere Reise dauerte 36 Stunden.
Während der gesamten Reise wurden wir von einer Gestapo-Frau [Anm.: SS-Aufseherin] begleitet, die sich trotz wiederholter Aufforderung weigerte, uns etwas zu trinken zu geben.“
In Neustadt
„In dieser Fabrik waren wir natürlich in einem Lager, bewacht von deutschen Gestapo-Männern [Anm.: SS-Männern] mit Gewehren, völlig eingesperrt und wir konnten mit niemandem kommunizieren. Ich habe dort 400 ungarische Jüdinnen wiedergetroffen. Wir hatten als Gestapo-Chefs drei Männer, einer wurde von seinen Kameraden denunziert, weil er gut für uns war, und er ging ins Gefängnis. Der Oberscharführer, ein sehr grausamer Mann, hieß Marinowits [Anm.: Johann Maronowski], der Unterscharführer Reichmann.“
Gewalt
„Reichmann hat Frauen nur einmal geschlagen, als er einen Hocker auf die Füße einer Frau warf, weil er betrunken war. Marinowits hingegen schlug die Frauen regelmäßig und grausam. 22 Gestapo-Frauen (sie wurden von den Amerikanern nach ihrer Ankunft aufgrund einer Denunziation durch benachbarte französische Gefangene festgenommen und ein Teil von ihnen soll hingerichtet worden sein) bildeten das Lagerwachpersonal. Sie schlugen die jüdischen Frauen und gaben ihnen zahlreiche Ohrfeigen.
Marinowits bestrafte drei jüdischen Frauen, die beim Entladen eines Waggons rohe Rüben gegessen hatten, mit 25 Schlägen mit einem ,Gummiʼ [Anm.: Schlagstock]. Die Vollstreckung dieser Strafe war abscheulich, die Frauen schrien und es ging ihnen schlecht. Marinowits befahl seinen Soldaten, die auf den Boden gefallenen Frauen wieder auf den Stuhl zu setzen und weiter zu schlagen. Ein anderes Mal, als die Frauen auf dem Rückweg von der Fabrik gelacht und gesungen hatten, gab er den Befehl, sie eineinhalb Stunden im wadentiefen Schnee und gegen einen eisigen Wind pausieren zu lassen. Ein anderes Mal wieder, als die Frauen ebenfalls lachten, ließ er sie in zwei Reihen aufstellen, nahm dann eine Peitsche aus fünf bis sechs Knoten und schlug ihnen ins Gesicht. Oft gab er auch einzelnen Frauen Schläge oder Ohrfeigen. Für die kleinste Dummheit wurde uns tagelang das Essen vorenthalten.“
Lebensbedingungen
„Der Gesundheitszustand, die Frage der Toiletten oder des Wassers, all das war besser als in Ravensbrück. Wir hatten ein Bett pro Person. Dagegen ging die Kohle mehrmals aus und die Frauen froren sehr. In der Ambulanz konnten wir mit dem Arzt eine gewisse Autorität aufbauen und bekamen von den Gestapo-Männern und -Frauen einen gewissen Respekt, was uns erlaubte, mehrmals zugunsten einiger Frauen zu intervenieren, die bestraft werden sollten.
Das Essen war völlig unzureichend: ¼ Kaffee-Ersatz am Morgen, 200 Gramm Brot für den Tag, eine Schüssel mit hellem Brei aus 15 Kilogramm Knochen für 400 Frauen, 6 Kartoffeln. Abends immer einen Löffel Marmelade, Quark oder ein wenig Margarine.
Ab Januar 1945 wurden die Rationen geringer, wir bekamen nur noch drei Kartoffeln und die letzten Tage im März kein Brot mehr.“
Aus: Befragung von Anne-Marie de La Morlais unter der Leitung von Lieutenant-Colonel Radin, 8. Mai 1945. (Archives Nationales de France, F/9/5577). (Übersetzung aus dem Französischen)