
Éva Fahidi (später Fahidi-Pusztai) wurde am 22. Oktober 1925 im ungarischen Debrecen geboren. Sie wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. 1936 konvertierte die jüdische Familie zum Katholizismus. Ende Juni 1944 nach Auschwitz deportiert und für immer getrennt, ermordete die SS Évas Mutter und Schwester gleich nach der Ankunft. Ihr Vater starb wenige Wochen später im Lager an Entkräftung. Nach sechs Wochen im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau kam Éva Fahidi nach Allendorf. Versteckt in einer Scheune befreiten sie amerikanische Soldaten. Erst 2004 fand sie die Kraft, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. 2014 ernannte sie die Stadt Stadtallendorf zur Ehrenbürgerin. Éva Fahidi-Pusztai starb 2023 in Budapest.
Aus den Erinnerungen von Éva Fahidi
Das ‚Lagerchen‘
„Erschöpft, todmüde, wie üblich durstig und hungrig, stiegen wir aus dem Waggon. […] die letzte Strecke legten wir zu Fuß zurück […]: ein mit Stacheldraht umgebenes, alleinstehendes (!!!) Lagerchen. Es war nicht so wie unser Lager in Auschwitz-Birkenau von unzählbaren anderen Lagern umgeben. […] Eine geringe Anzahl von Baracken stand dort […], außerdem noch ein Revier und die Krönung des Luxus: ein Waschraum […]. Es gab Latrinen, keine vollen Kübel […]. Es war Wasser da!!! Jede Menge Wasser! Das war das Paradies, ein Märchenschloss. In den sechs Wochen, seit wir Ungarn verlassen hatten, waren wir sehr bescheiden geworden. Sogar die Inneneinrichtung der Baracken war luxuriös. Sie waren – ganz unglaublich – mit Etagenpritschen ausgestattet […] eine eigene Lagerstätte […] mit einem Strohsack und einer dünnen, fadenscheinigen, groben, kratzigen, stinkenden, braunen Decke.“
„Zitronen“
„Im Werk wurden Kanonengeschosse, Granaten und Bomben hergestellt, mit einem Gewicht zwischen fünf Kilo und einem Zentner. […] Wir gingen also mit schweren, giftigen Rohstoffen um, nahmen alles ohne Schutzhandschuhe in die Hand, für uns waren keine Schutzmasken und Schürzen erforderlich, wir atmeten alle Gifte ein und wateten bis zu den Knien im Salpeter. Die Einheimischen nannten uns ‚Zitronen‘, weil unsere Haut so gelb verfärbt war. Unser Haar, das gerade begonnen hatte, wieder nachzuwachsen, changierte in kräftigeren oder schwächeren Violetttönen, je nachdem, ob man von Natur aus blond oder dunkelhaarig war. Auf unseren Lippen und unserer Haut spürten wir ununterbrochen den bitteren Geschmack des Giftes, das wir nicht aus- oder abwaschen konnten, unsere gesamte Umgebung war ja verseucht.“
Kälte
„Am schlimmsten waren die Nächte in den Baracken. In den Stuben der Baracken in der Münchmühle befand sich zwar ein Ofen, der war aber nur Dekoration da. Geheizt wurde nicht. […] Wenn man eine Holzbaracke, die nicht isoliert ist, im Winter nicht heizt, besteht zwischen Außen- und Innentemperatur kein großer Unterschied. Wenn Hände und Füße den bereits erwähnten Eiszapfenzustand erreichen und keine Badewanne voll mit heißem Wasser vorhanden ist, man aber trotzdem schlafen will, weil man vor Müdigkeit fast krepiert, wenn man schon den betonfest gefrorenen Weg vom Werk ins Lager mühsam zurückgelegt hat, wenn das Essen, das man bekommt, nicht einmal die verbrauchten Kalorien ersetzt, fängt man zu zittern an. Man zittert nicht nur vor Kälte, man zittert von innen nach außen, man zittert unkontrollierbar, und die ganze Etagenpritsche zittert mit.“
Revier
„Ich weiß noch, dass ich einmal mit ‚Magenvergiftung‘, wie wir es vereinfachend nannten – wir haben ja ungeschützt mit Trinitrotoluol und Trinitrobenzol gearbeitet –, eine Woche lang im Revier sein durfte. Dieser Gnade wurde man erst zuteil, wenn einem schon schwindelig war, man nicht mehr gehen konnte und vor Übelkeit sogar den Hunger nicht spürte. Dann erst kam man ins Revier. […] Und wenn auch kaum ein trostloserer Ort vorstellbar war als unser Revier, hatte man doch zumindest etwas Ruhe.“
Räumung
„Es ist der 28. März. […] Ich komme nicht auf die Beine, erstens, weil ich aus Schwäche nicht in der Lage bin, aufzustehen und mich aufzurichten. Schon die Nacht zuvor musste ich all meine Kräfte zusammenraffen, um mitgehen zu können, um Schritt zu halten und nicht zurückzubleiben. Jetzt bin ich am Ende meiner Kräfte angelangt. Ich kann mich nicht rühren. […] Und außerdem kann ich meine Füße, die voller Blasen und Wunden sind, nicht in die Holzpantinen stecken. So kann man nicht gehen. […] Die wenigen Schritte, die ich von der Hütte bis dorthin, wo die Fünferreihen gebildet werden, zurückgelegt habe, haben meine letzten Kräfte verbraucht. Ich habe keine Energie mehr, für nichts. […]. Ich sitze im Gras, die Gruppe zieht weiter, ich kann die Stimmen schon nicht mehr hören.“
Aus: Éva Fahidi, Die Seele der Dinge, Berlin 2011, S. 184 ff.