(Stadt)Allendorf (Frauen)

13. August 1944 – 27. März 1945

Das Lager

In der 1.500 Einwohner und Einwohnerinnen zählenden oberhessischen Gemeinde Allendorf (heute Stadtallendorf) entstand seit 1938 ein Rüstungszentrum mit zwei Sprengstofffabriken. In ihnen arbeiteten im Krieg bis zu 23.000 Menschen, vor allem Kriegsgefangene und ausländische Zwangsarbeitende. Die Gesellschaft m.b.H. zur Verwertung chemischer Erzeugnisse (kurz Verwertchemie), ein Tochterunternehmen der Dynamit Nobel AG, betrieb eine der Fabriken. Seit Juni 1944 verhandelte deren Direktor Arthur Ringleb mit der SS über den Einsatz von KZ-Häftlingen. Die zwei Monate später eintreffenden ungarischen Jüdinnen wurden in einem 1940 erbauten Barackenlager, zwei Kilometer westlich von Allendorf an der Mühle am Münchbach gelegen, untergebracht. Das Lager war zweigeteilt: der obere Bereich für die Wachmannschaft, der untere für die Häftlinge. Eingezäunt befanden sich dort die Unterkunftsbaracken, die Küche, das Revier und Waschmöglichkeiten. Das Lager grenzte an das ca. 530 Hektar große Betriebsareal der Verwertchemie. In unmittelbarer Nähe lagen die Straße zwischen Kirchhain und Neustadt und die Main-Weser Bahnstrecke. Mitte August richtete die Verwertchemie in Hessisch Lichtenau ein zweites Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Buchenwald ein.

Das Lager „Münchmühle“ aus Richtung der Bahnlinie, um 1942
Das Lager „Münchmühle“ aus Richtung der Bahnlinie, um 1942. Im Vordergrund ist die Straße, links die am Münchbach gelegene Mühle zu erkennen.
©Fotoarchiv DIZ Stadtallendorf

Die Häftlinge

Am 13. August 1944 brachte die SS 1.000 Jüdinnen aus Auschwitz nach Allendorf. Die Frauen stammten aus Ungarn und den seit 1940 zu Ungarn gehörenden angrenzenden Regionen. Aus ihrer Heimat waren die Frauen und Mädchen im Frühsommer 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Weil sie als arbeitsfähig galten, entgingen sie der sofortigen Ermordung in den Gaskammern. Ihr Durchschnittsalter betrug 27 Jahre. Edith Wieder aus Miskolc war mit 14 Jahren die Jüngste, Rosza Feurer aus Komádi mit 52 Jahren die Älteste. Unter den Frauen befanden sich Geschwister, wie Edith, Judith, Mira, Eszter und Marita Löffler aus Érsekújvár, und Mütter mit ihren Töchtern, wie Borbalá und Katalin Biro aus Kaposvár. Bis auf einzelne Überstellungen in andere Lager blieb die Belegung des Lagers bis zur Räumung weitgehend konstant.

„Es war Wasser da!!! Jede Menge Wasser! Das war das Paradies, ein Märchenschloẞ.“
Éva Fahidi-Pusztai
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Werksleitung setzte die Frauen größtenteils in der Fabrikation zur Befüllung von Granaten und Bomben mit TNT und anderen Sprengstoffen ein. Der ungeschützte Umgang mit den giftigen Chemikalien war gesundheitsschädigend und das Bewegen der gefüllten Granaten äußerst anstrengend für die geschwächten Frauen. Zur sogenannten Füllstelle mussten sie rund drei Kilometer laufen. Weitere Arbeitskommandos gab es in der werkseigenen Wäscherei und Schneiderei. Berichten zufolge verpflichtete man die Frauen auch zu Wege- und Erdarbeiten und in der Landwirtschaft. Gearbeitet wurde zunächst tagsüber zehn Stunden mit einer 30-minütigen Pause, sechs Tage in der Woche – ab Mitte November kam eine zehnstündige Nachtschicht hinzu. Den ansonsten arbeitsfreien Sonntag strich die Werksleitung zunehmend ab Januar 1945. In ihren Jahresbericht für das Jahr 1944 hielt die Firmenleitung fest: „Auch das Verfüllen der fast 50 kg schweren 15 cm Granaten konnte mit bestem Erfolg durch Einsatz weiblicher jüdischer Häftlinge bewältigt werden“.

Krankheit und Tod

Der SS-Sanitäter Johannes Heuermann verantwortete in Verbindung mit dem Betriebsarzt der Sprengstofffabrik Dr. Hellmuth Fuchs die medizinische Versorgung der Frauen. Berichten zufolge war die Behandlung rücksichtslos und primitiv. Wie viele der Frauen lebenslänglich an den Folgeschäden der schweren, gesundheitlich stark belastenden Tätigkeit zu leiden hatten, ist kaum abzuschätzen. Im Dezember 1944 sah sich die SS genötigt, zusätzlich die Häftlingsärztin Dr. Magda Kolosz aus dem Außenlager Leipzig-Schönau nach Allendorf zu bringen. Zusammen mit der Bakteriologin Dr. Margit Szazs und acht Häftlingspflegerinnen trugen sie die Hauptlast in der Krankenstation. Der Umgang mit den hochgiftigen Chemikalien hatte ein Todesopfer zur Folge: Am 8. November 1944 starb die 46-jährige Jolan Hauer aus Miskolc. Als Todesursache wurde „Gelbsucht mit Blutzerfall“ angegeben. Fünf Schwangere ließ die SS Ende Oktober 1944 zurück nach Auschwitz bringen, zwei weitere Ende Januar 1945 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Bewachung

Bereits im Juni 1944 sagte Fabrikdirektor Ringleb der SS zu, in seinem Betrieb weibliche Angestellte für den Dienst als Aufseherinnen anzuwerben. Schließlich überwachten bis zu 48 SS-Aufseherinnen die Frauen im Lager und bei der Arbeit. Als Kommandoführer fungierte SS-Hauptscharführer Adolf Wuttke (1890-1970er Jahre). Seit 1939 im Wachbataillon in Buchenwald tätig, wurde er für den Einsatz in Allendorf im Außenlager Schönebeck vorbereitet. Überlebende schilderten Wuttke als vergleichsweise human. Gefürchtet für seine Brutalität waren hingegen sein Stellvertreter Ernst Schulte(r) und einige Aufseherinnen. Neben den SS-Frauen hatte er die Aufsicht über bis zu 46 SS-Männer. Die meisten der vermutlich älteren Männer überstellte die Wehrmacht zuvor an die SS – zur Bewachung der Lager. Ein amerikanisches Militärgericht in Dachau verurteilte Wuttke 1947 wegen der Misshandlung von Häftlingen in Buchenwald zu viereinhalb Jahren Gefängnis. Strafrechtliche Verurteilungen wegen Verbrechen in Allendorf sind nicht bekannt.

Räumung

Am 27. März 1945 räumte die SS das Lager vor den heranrückenden amerikanischen Truppen, wahrscheinlich mit dem Ziel Bergen-Belsen. Der mehrtägige Fußmarsch der 993 Frauen führte Richtung Nordosten nach Homberg (Efze). Während des gesamten Marsches setzten sich Wachmannschaften und Aufseherinnen ab. Mehrfach gelang es Gruppen von Frauen zu fliehen und sich zu verstecken, bis sich der gesamte Zug auflöste.

Spuren und Gedenken

In dem Barackenlager wurden nach dem Krieg zunächst Displaced Persons und später deutsche Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht. 1947 ließ man es abreißen. Auf dem Areal der Sprengstofffabrik kam es zu Demontagen und Sprengungen. Später siedelten sich auf dem Gelände wieder Industrie- und Handwerksbetriebe an. In den 1980er-Jahren begann die Aufarbeitung der Geschichte des Außenlagers. Zivilgesellschaftliche Initiativen mündeten 1988 in der Errichtung der Gedenkstätte Münchmühle auf dem ehemaligen Lagergelände. Ende Oktober 1990 organisierten die Stadt und ein Förderverein eine Begegnungswoche unter dem Motto „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“: 184 ehemalige KZ-Häftlinge nahmen die Einladung an. Schließlich eröffnete 1994 im ehemaligen Verwaltungssitz der Dynamit Nobel AG das Dokumentations- und Informationszentrum Stadtallendorf (DIZ). Der Lern- und Begegnungsort beherbergt eine archivarische Sammlung und ein Museum mit dem Schwerpunkt Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit.

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Die Gedenkstätte Münchmühle, 2022
Die Gedenkstätte Münchmühle, 2022 ©DIZ Stadtallendorf

Literatur:

Bernd Klewitz, Die Arbeitssklaven der Dynamit Nobel, Schalksmühle 1986.

Fritz Brinkmann-Frisch, Allendorf („Münchmühle“), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 360 ff.

Magistrat der Stadt Stadtallendorf (Hg.), Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ). Stadtmuseum Allendorf. Ausstellungskatalog, Stadtallendorf 2011.

Monika Hölscher (Hg.), Das ehemalige KZ-Außenlager Münchmühle bei Stadtallendorf und das Aktive Museum Spiegelgasse in Wiesbaden, Wiesbaden 2013.


Éva Fahidi (2. v. l.) mit ihren Eltern Irma und Desiderius und ihrer Schwester Gilike, 1930er-Jahre
Éva Fahidi (2. v. l.) mit ihren Eltern Irma und Desiderius und ihrer Schwester Gilike, 1930er-Jahre ©Gedenkstätte Buchenwald
„Es war Wasser da!!! Jede Menge Wasser! Das war das Paradies, ein Märchenschloẞ.“

Éva Fahidi-Pusztai

Éva Fahidi (später Fahidi-Pusztai) wurde am 22. Oktober 1925 im ungarischen Debrecen geboren. Sie wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. 1936 konvertierte die jüdische Familie zum Katholizismus. Ende Juni 1944 nach Auschwitz deportiert und für immer getrennt, ermordete die SS Évas Mutter und Schwester gleich nach der Ankunft. Ihr Vater starb wenige Wochen später im Lager an Entkräftung. Nach sechs Wochen im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau kam Éva Fahidi nach Allendorf. Versteckt in einer Scheune befreiten sie amerikanische Soldaten. Erst 2004 fand sie die Kraft, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. 2014 ernannte sie die Stadt Stadtallendorf zur Ehrenbürgerin. Éva Fahidi-Pusztai starb 2023 in Budapest.



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