Leipzig-Schönau (Frauen)

22. August 1944 – 13. April 1945

Das Lager

Die seit 1920 in Leipzig ansässige Allgemeine Transportanlagen GmbH (kurz ATG) war ursprünglich auf die Fertigung von Förderanlagen spezialisiert. Die Produktion wurde auf den Flugzeugbau umgestellt, die ATG 1933 Teil des Flick-Konzerns und hierdurch zu einem der wichtigsten Unternehmen in der deutschen Luftrüstungsindustrie. Seit Kriegsbeginn unterhielt die ATG in Leipzig mindestens 20 Lager für Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die in den verschiedenen Werken arbeiten mussten. Seit Frühsommer 1944 verhandelte das Unternehmen mit der SS zudem über den Einsatz von KZ-Häftlingen. Die ersten weiblichen Häftlinge trafen schließlich im August 1944 ein. Untergebracht wurden sie in einem Barackenlager. Es befand sich auf einer freien Fläche in der damaligen Lindenauallee, westlich des Stadtzentrums im eher ländlich geprägten Stadtteil Leipzig-Schönau. Das Barackenlager grenzte an eine Bahnstrecke und war umgeben von Stacheldraht, Wachtürmen und Splittergräben. Es bestand aus vier Unterkunftsbaracken, Sanitäranlagen und einer kleinen Krankenstation. Zu ihrem rund drei Kilometer entfernten Arbeitsort im Hauptwerk der ATG (Werk I) in der Schönaustraße 101 mussten die Frauen täglich zu Fuß marschieren.

Die Häftlinge

Am 22. August 1944 trafen 500 weibliche Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig in Leipzig-Schönau ein. Die Frauen und Mädchen galten als ungarische Jüdinnen. Sie stammten aus der ungarischen Provinz und aus Grenzregionen, vor allem in Transsilvanien, die 1944 zu Ungarn gehörten. Nach dem deutschen Einmarsch im Frühjahr 1944 waren sie mit ihren Familien nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden; die dortigen Selektionen überlebten sie. Zur Zwangsarbeit schickte die SS sie in das Konzentrationslager Riga-Kaiserswald und von dort nach Stutthof. Mehr als die Hälfte von ihnen war jünger als 25, die jüngste 15 und die älteste 48 Jahre alt. Kurz nach der Ankunft ließ die SS fünf Frauen, die sie als nicht einsatzfähig einstufte, zurück nach Stutthof bringen und ersetzen. Mitte Februar 1945 überstellte die SS 180 Frauen in das neue Frauenaußenlager Leau, wo sie ebenfalls für die ATG arbeiten mussten. In der Buchenwalder Lagerverwaltung galt das Frauenaußenlager in Leipzig-Schönau als „jüdisches Außenkommando“. In den acht Monaten seiner Existenz durchliefen insgesamt 507 weibliche Häftlinge das Lager.

„Zwei Tage später kamen wir in einem Lager in Leipzig an, in dem 500 ungarische Frauen untergebracht waren. Sie waren erst wenige Wochen in diesem Lager; sie kamen von irgendwo in der Nähe der Ostsee .“
Trude Levi
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die ATG fertigte in ihren Werken in Leipzig nach Lizenzen der Junkers-Werke Teile für die Ju 52 und im Krieg insbesondere für den Bomber Ju 88. Bereits 1943 machten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ein Viertel der Gesamtbeschäftigten aus. Im Jahr darauf stieg ihr Anteil auf über 40 Prozent. Die Frauen des Außenlagers in Schönau waren in der Produktion eingesetzt. Über die Details der Arbeit liegen nur wenige Informationen vor. Berichten zufolge arbeitete ein Teil der Frauen an Werkbänken oder sie mussten kleinere Elemente an Flugzeugteilen befestigen – unter der Aufsicht von deutschen Vorarbeitern. Die zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten wurden von einer 30-minütigen Pause unterbrochen. Die Sonntage galten in der Regel als arbeitsfrei. Im Januar 1945 gab es beispielsweise keine freien Tage.

Krankheit und Tod

In der Krankenstation des Lagers kümmerten sich die beiden Häftlingsärztinnen Agnes Hirsch und Margit Gara um die Kranken. Als SS-Sanitäter wurde SS-Oberscharführer Arthur Hanschel in Leipzig-Schönau eingesetzt. Zudem war ein namentlich nicht bekannter Betriebsarzt der ATG für das Frauenlager zuständig. Die Zahl der wegen Krankheit nicht arbeitsfähigen Frauen schwankte über den gesamten Zeitraum zwischen 20 und 40 pro Tag. Am 21. November 1944 schickte die SS zwei Frauen zurück nach Stutthof: Eine von ihnen, Erzsébet Weisz, war im neunten Monat schwanger; sie starb sechs Wochen später angeblich an einer Herz-Kreislauf-Schwäche. Die andere, Agnes Wechter, galt wegen einer Nervenerkrankung als unheilbar. Mitte Januar brachte eine Frau in Leipzig ein totgeborenes Mädchen zur Welt. Der Leichnam wurde eingeäschert und die Urne auf dem Leipziger Ostfriedhof beigesetzt. Vier Schwangere beziehungsweise Frauen mit Neugeborenen ließ die SS Ende Januar 1945 nach Bergen-Belsen bringen. Mindestens eine von ihnen überlebte. Für das Außenlager in Leipzig-Schönau sind keine Todesfälle dokumentiert.

Bewachung

Als Kommandoführer setzte die Buchenwalder Lagerverwaltung SS-Hauptscharführer Rudolf Eisenacher ein. Über ihn liegen keine weiteren Informationen vor. Die Größe der Wachmannschaft variierte. Im November 1944 umfasste sie 24 SS-Männer und 28 Aufseherinnen, im März 1945 hingegen 35 SS-Männer und 17 Aufseherinnen. Der Großteil der SS-Aufseherinnen war zuvor im Umfeld der ATG angeworben worden.
Ermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg wegen Verbrechen in Leipzig-Schönau führten in den 1970er-Jahren zu keinem Ergebnis.

Räumung

Ende März 1945 kehrten die Frauen, die die SS im Monat zuvor in das Außenlager Leau gebracht hatte, nach Leipzig-Schönau zurück. Anfang April 1945 trafen zudem 789 Frauen aus dem Außenlager in Hessisch Lichtenau ein. Die SS löste das Lager spätestens am 13. April 1945 auf und zwang die Frauen, in Richtung Osten zu marschieren. Zwei Wochen wurden sie zu Fuß hin und her getrieben, vermutlich in verschiedenen Gruppen. Ein Teil der Frauen konnte Ende April in Strehla, nordwestlich von Dresden, befreit werden. Einige Tage später trafen amerikanische Truppen in Wurzen – lediglich 35 Kilometer von Leipzig-Schönau entfernt – auf 403 Frauen aus Leipzig-Schönau und auf 521 Frauen aus Hessisch Lichtenau.

Spuren und Gedenken

Die ATG wurde 1946 enteignet, die Produktionsanlagen am Hauptwerk abgebaut und die Hallen gesprengt. Auch das Barackenlager wurde vermutlich unmittelbar nach dem Krieg abgebaut. Es gibt heute keine baulichen Spuren mehr. In den 1970er- und 1980er-Jahren entstand auf dem ehemaligen Lagerareal das Neubaugebiet Leipzig-Grünau.
Seit 2001 erinnert die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig an die Opfer des NS-Zwangsarbeitseinsatzes in Leipzig und Umgebung. Die Gedenkstätte befindet sich auf dem historischen Gelände des ehemaligen Stammwerkes der HASAG, die heute ein Wissenschaftskomplex ist. Auf Initiative der Freien Schule Leipzig, der Gruppe „Grünau hat Geschichte“ und des Bundes der Antifaschisten Leipzig e.V. konnte 2014 eine Gedenktafel am ehemaligen Lagerstandort in der heutigen Parkallee angebracht werden.

Link zum heutigen Standort und zum Standort der Gedenktafel auf GoogleMaps

Kontakt:
Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig

Literatur:

Irmgard Seidel, Leipzig-Schönau, in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 493-495.


Gertrude Mosonyi, 1943
Gertrude Mosonyi, 1943 ©Wiener Holocaust Library Collections
„Zwei Tage später kamen wir in einem Lager in Leipzig an, in dem 500 ungarische Frauen untergebracht waren. Sie waren erst wenige Wochen in diesem Lager; sie kamen von irgendwo in der Nähe der Ostsee .“

Trude Levi

Trude Levi wurde am 23. April 1924 als Gertrude Mosonyi in Szombathely, Ungarn, als Tochter einer Österreicherin und eines Ungarn geboren. Im Mai 1944 mit ihrer sozialistischen jüdischen Familie in ein Ghetto gezwungen und im August nach Auschwitz deportiert, brachte die SS sie im September zur Zwangsarbeit in das Buchenwald-Außenlager Hessisch Lichtenau. Bei der Evakuierung des Lagers kam sie nach Leipzig-Schönau, wo sie am 23. April 1945 auf einem Marsch aus dem Lager bei Klingenhain zurückblieb. Nach der Befreiung ging Mosonyi zur Erholung nach Frankreich. 1946 heiratete sie den Musiker Stephan Deak, mit dem sie im April 1948 nach Südafrika übersiedelte. 1949 emigrierte sie mit ihrem sechs Monate alten Sohn nach Israel, 1957 wanderte die Familie nach England aus, wo sie in London als Archivarin, Bibliothekarin und Pädagogin arbeitete. 1970 heiratete sie Franz Levi. Nach ihrer Pensionierung schrieb sie zwei Bücher über ihre Kriegserlebnisse. Trude Levi starb am 5. Dezember 2012 in London.



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