Magdeburg-Polte

3. November 1944 – 13. April 1945

Das Lager

Unweit des Stadtzentrums von Magdeburg lag in der Poltestraße, der heutigen Liebknechtstraße, das Hauptwerk des Rüstungskonzerns Polte. Gegenüber dem Werk hatte das Unternehmen im September 1944 ein KZ-Außenlager für weibliche Häftlinge eingerichtet. Auf demselben Gelände, aber räumlich getrennt vom Frauenlager, wurde im November 1944 zusätzlich ein Lager für männliche KZ-Häftlinge errichtet. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich Unterkünfte für weitere ausländische Zwangsarbeitende. Zwei Holzbaracken, vorher für Kriegsgefangene genutzt, dienten als Unterkunft für die Männer. In ihnen gab es Schlafräume mit dreistöckigen Betten, Tagesräume und Waschmöglichkeiten. Die Unterkünfte und die hygienischen Verhältnisse waren besser als im benachbarten Frauenlager. Im März 1945 kam eine dritte Baracke hinzu. Das Lagerareal umgab ein elektrisch geladener Zaun und teilweise eine Mauer. Verantwortlich für die Verpflegung der Häftlinge war die Werksleitung.

Häftlinge

Am 3. November 1944 erreichten 500 jüdische Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof das Lager in der Poltestraße. Vertreter des Werks suchten sie in dem Lager bei Danzig persönlich aus. Die größte Gruppe der Häftlinge bildeten lettische Juden. Weitere Männer stammten aus Polen, Litauen, der Tschechoslowakei, Deutschland, Österreich, Frankreich und Estland, die zuvor das Ghetto Riga und verschiedene Konzentrationslager überlebt hatten. Der mit Abstand Jüngste von ihnen war der erst 12-jährige Sima Buwitsch aus Riga. Aus den Reihen der lettischen Juden wählte die SS alle Funktionshäftlinge des Lagers aus. Mitte Januar 1945 überstellte die SS weitere 100 ungarische Juden aus Buchenwald nach Magdeburg. In der Buchenwalder Lagerverwaltung zählte das Männerlager der Poltewerke zu den „jüdischen Außenkommandos“. Ein letzter Transport kam Mitte März 1945 mit 130 Männern aus dem Buchenwalder Außenlager Langenstein-Zwieberge in Magdeburg an. Insgesamt durchliefen somit über 700 Häftlinge das Lager.

„Nach einer zweitägigen Fahrt hielt der Zug auf einem Privatgleis in der Nähe der Fabrik.“
Boris Kacel
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Polte-Metallwarenfabrik OHG hatte sich auf die Herstellung von Munition und Geschosshülsen spezialisiert. Die Häftlinge waren zu unterschiedlichen Arbeiten eingeteilt, zum Teil an Drehbänken und Pressen. Gearbeitet wurde in Tag- und Nachtschichten von 6 bis 18 Uhr und von 18 bis 6 Uhr mit jeweils einer Stunde Pause – an Sonntagen nur in reduzierter Form. Deutsche zivile Meister und Vorarbeiter leiteten die Häftlinge an und beaufsichtigten sie. Rund 100 Häftlinge erkannte die Werksleitung als Facharbeiter an, für die sie täglich 6 Reichsmark an die SS zahlte. Alle anderen galten als Hilfsarbeiter. Mit Prämien versuchte das Werk, die Einsatzbereitschaft der ausgehungerten Häftlinge zu steigern. Nach einem flächendeckenden Luftangriff auf Magdeburg ging die Produktion im Werk ab Mitte Januar 1945 zurück. Viele Häftlinge mussten nun in der Stadt Trümmer räumen oder Panzersperren errichten.

Werbeanzeige der Poltewerke, um 1936.
Werbeanzeige der Poltewerke, um 1936. Vor dem Krieg produzierte das Werk unter anderem Haushaltsgegenstände.
©Gedenkstätte Buchenwald

Krankheit und Tod

Als Lagerarzt setzte die SS den 54-jährigen Ber Jakobsohn, einen Mediziner aus Riga, ein. Der ebenfalls aus Riga stammende Arzt Łazar Jaworkowski unterstützte ihn. SS-Unterscharführer Ferdinand Brauner beaufsichtigte sie als SS-Sanitäter. Seuchen, wie sie im benachbarten Frauenlager grassierten, sind für das Männerlager nicht belegt. Die Häftlinge litten hier vor allem unter permanentem Hunger aufgrund der unzureichenden Verpflegung, die das Werk zur Verfügung stellte. Dokumentiert sind zudem Arbeitsunfälle. Der 21-jährige Hans Leiser aus Köln starb im Januar 1945 an einem Schädelbruch, den Folgen eines Unfalls im Rüstungswerk. Bis Ende März 1945 meldete das Männerlager insgesamt elf Tote nach Buchenwald. Als Todesursachen wurden in den meisten Fällen Herzerkrankungen angegeben. Dr. Wiedau, der Betriebsarzt der Polte-Werke, unterzeichnete die Totenscheine.

Bewachung

Männer- und Frauenlager hatten dieselbe SS-Wachmannschaft. Mit dem Häftlingstransport aus dem Konzentrationslager Stutthof trafen auch SS-Männer zur Verstärkung der Wachmannschaft des neu errichteten Männerlagers in Magdeburg ein. Unter ihnen befand sich der für seine Gewalt berüchtigte SS-Mann Hans Hoffmann, den viele Häftlinge noch aus dem Konzentrationslager Riga kannten. Als Kommandoführer fungierte von November 1944 bis Ende Januar 1945 SS-Oberscharführer Andreas Hochwarth. Ihm folgte ein SS-Hauptsturmführer Jaeckel. Ende März 1945 umfasste die Wachmannschaft 87 SS-Männer und 47 SS-Aufseherinnen. Letztere waren ausschließlich im Frauenlager eingesetzt. Mitglieder der Wachmannschaft konnten nach 1945 nicht strafrechtlich belangt werden. 1951 kam es in Magdeburg zur Verurteilung von drei ehemaligen Volkssturmmännern wegen der Beteiligung an einem Massaker bei der Räumung des Lagers. In der Revision ein Jahr später wurden die Haftstrafen jedoch wieder aufgehoben.

Räumung

Am 11. April 1945 setzten sich Teile der SS-Wachmannschaft aufgrund der befürchteten Ankunft amerikanischer Einheiten ab. Viele Häftlinge nutzten die unübersichtliche Lage, um zu fliehen und sich in den Trümmern der Stadt zu verstecken. Am 13. April trieben SS-Wachen und Männer des Magdeburger Volkssturms die verbliebenen Männer und Frauen der beiden Lager zusammen. Hierbei scheint es zu ersten Erschießungen gekommen zu sein. Sie zwangen die Häftlinge über die Elbe bis zum Gelände des Sportstadions „Neue Welt“. Dort gerieten sie unter Beschuss amerikanischer Artillerie. Die SS-Wachen und Volkssturmmänner schossen auf alle Häftlinge, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten. Vor allem unter den Frauen gab es zahlreiche Tote und Verletzte. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Die überlebenden Männer wurden in einem tagelangen Gewaltmarsch in das KZ Sachsenhausen getrieben, die Frauen in das Frauen-KZ Ravensbrück. Wie viele von ihnen unterwegs ums Leben kamen, ist nicht bekannt.

Spuren und Gedenken

Die sowjetische Besatzungsmacht stellte die Polte-Werke OHG Magdeburg zunächst unter Zwangsverwaltung und enteignete sie später. 1948 erfolgte die Umwandlung in einen volkseigenen Betrieb. Was mit den Baracken des Außenlagers geschah und wann diese abgebaut wurden, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In der Liebknechtstraße erinnert seit den 1980er-Jahren das zum Mahnmal umgewidmete steinerne Eingangstor des Lagers an die Geschichte des Ortes. 2008 um eine Gedenktafel ergänzt und 2020 neugestaltet, finden dort jährlich Gedenkveranstaltungen statt. An der Berliner Chaussee 217 ehrt ein Gedenkstein die Toten des Massakers im Stadion „Neue Welt“.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenkzeichen in der Liebknechtstraße auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenksteins im Stadion „Neue Welt“ auf GoogleMaps

Literatur:

Pascal Begrich, Magdeburg (Polte-Werke OHG) (Männer), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen und Buchenwald, München 2006, S. 518-520.


Boris Kacel nach der Befreiung, 1945
Boris Kacel nach der Befreiung, 1945 ©Illinois Holocaust Museum
„Nach einer zweitägigen Fahrt hielt der Zug auf einem Privatgleis in der Nähe der Fabrik.“

Boris Kacel

Boris Kacel kam am 11. März 1921 in Riga zur Welt. Im Oktober 1941 musste seine Familie in das Ghetto von Riga ziehen. Seine Mutter und seine drei Geschwister wurden kurz darauf ermordet. Mit seinem Vater überlebte er die Konzentrationslager Riga-Kaiserswald, Vaivara in Estland und Stutthof. Anfang November 1944 kamen beide nach Magdeburg. Im Chaos der Räumung gelang ihm die Flucht. Sein Vater überlebte den Todesmarsch nach Sachsenhausen. 1947 wanderte Boris Kacel in die USA aus, wo er eine Familie gründete. Er starb 2019 in Skokie bei Chicago.



weiterlesen