Meuselwitz

3. November 1944 – 12. April 1945

Das Lager

Seit 1936 betrieb der Leipziger Rüstungskonzern Hugo-Schneider AG (HASAG) in Meuselwitz, rund 30 Kilometer südlich von Leipzig, in einer ehemaligen Porzellanfabrik ein Rüstungswerk. Es befand sich am östlichen Stadtrand zu beiden Seiten der heutigen Nordstraße. In einem an das Werk angrenzenden Barackenlager, das ursprünglich als Unterkunft für Zwangsarbeitende aus den deutsch besetzten Ländern Europas gedient hatte, richtete die SS bereits im Oktober 1944 auf Anforderung der HASAG ein Frauenaußenlager des KZ Buchenwald ein. Auf demselben Areal entstand einen Monat später, Anfang November 1944, ein Männeraußenlager. Es lag unterhalb des Frauenlagers und umfasste einige Gebäude. Die Funktionsbauten wie die Küche befanden sich im Frauenlager. Die Verpflegung holten männliche Häftlinge täglich am Eingang des Frauenlagers ab.

Die Häftlinge

Das Männerlager wurde am 3. November 1944 erstmals mit 41 Häftlingen belegt. Es waren jüdische Häftlinge aus Polen, die in Tschenstochau, dem heutigen Częstochowa, bereits in einem Arbeitslager für die HASAG Zwangsarbeit leisten mussten. Die Betriebsleitung hatte sie als Facharbeiter angefordert. Ende Oktober brachte die SS weitere 150 jüdische Häftlinge aus Auschwitz nach Meuselwitz. Einige der Männer stammten aus dem damaligen Ungarn, der Großteil jedoch aus dem heutigen Tschechien. Letztere waren Überlebende des Ghettos Theresienstadt und erst kurz zuvor nach Auschwitz verschleppt worden. Weitere jüdische Häftlinge trafen aus dem HASAG-Außenlager in Schlieben in Meuselwitz ein. Mitte Dezember 1944 schickte die SS zudem 100 nicht-jüdische, politische Häftlinge aus Buchenwald in das HASAG-Männerlager. Die meisten kamen aus der Sowjetunion, Polen und Jugoslawien. Direkt aus Buchenwald deportierte die SS auch den deutschen Häftling Johann Denkert, der fortan als Lagerältester in Meuselwitz fungierte. Die Höchstbelegung erreichte das Lager im Februar 1945 mit 334 Häftlingen.

„Immer, wenn wir zur Frühschicht antraten und am Lagereingang der Nachtschicht begegneten, merkten wir, wie sich die Kameraden nach der Nachtschicht buchstäblich auflösten, wie sie von Tag zu Tag dahinschwanden. Und sie konnten dasselbe an uns beobachten.“
Miloš Pick
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Zwangsarbeit

Wie die Frauen aus dem benachbarten Lager mussten die Männer in der Rüstungsproduktion des HASAG-Werks hauptsächlich Panzerfäuste und Munition herstellen. Die Fertigung war fließbandartig organisiert, und die Männer arbeiteten vor allem an automatischen Drehbänken, angetrieben und überwacht von deutschen Vorarbeitern und Meistern und ohne jede Arbeitskleidung oder jeden Arbeitsschutz. Im Werk gab es zwölfstündige Tag- und Nachtschichten mit zwei halbstündigen Pausen pro Schicht – sonntags in der Regel nur die Tagschicht. Ende März 1945 ging die Produktion langsam zurück. Neben und nach der Arbeit im Werk setzte die Werksleitung die Männer vielfach noch im Lager oder in der Umgebung des Werks ein.

Krankheit und Tod

Unter den aus Auschwitz kommenden Häftlingen befand sich der 42-jährige jüdische Arzt Simon de Vries aus Amsterdam. Sehr wahrscheinlich war er es, den die SS in Meuselwitz als Häftlingsarzt einsetzte. Über die Beschaffenheit der Krankenstation liegen keine Informationen vor. Durchschnittlich befanden sich im November 1944 täglich bis zu 20 Männer in Behandlung, im März 1945 waren es bis zu 30. SS-Sanitäter Anton Schwanderlik befehligte die Krankenstationen im Frauen- und Männerlager. Die Totenscheine stellte der Vertragsarzt vor Ort, Dr. Güthert, aus. Einzelne Kranke schickte die Lagerführung zurück ins Hauptlager Buchenwald. Vor Ort starben bis Ende März 1945 acht Männer an den Folgen von allgemeiner Schwäche und Tuberkulose, an Lungenentzündungen oder Blutvergiftungen. Die Toten wurden auf dem Friedhof in Altenburg beigesetzt.

Bewachung

Für das Männer- und das Frauenlager war dieselbe Wachmannschaft zuständig. Das Kommando in Meuselwitz führte bis Ende November 1944 SS-Oberscharführer Heinz W. Blume (geb. 1913). Nach dem Luftangriff wurde er von SS-Untersturmführer Fritz Bergmaier (1920-1984) abgelöst, der zuvor das Außenlager Lützkendorf befehligte. Blume blieb als 2. Kommandoführer und Arbeitsdienstführer vor Ort. Die Wachmannschaft umfasste im März 1945 69 SS-Männer. Hinzu kamen 33 SS-Aufseherinnen unter der Oberaufseherin Erna Richter, die jedoch nur im Frauenlager eingesetzt waren.
Ein amerikanisches Militärgericht in Dachau verurteilte Blume 1947 wegen Verbrechen während eines Todesmarschs zum Tode. Die Strafe wurde zu einer Haftstrafe umgewandelt. Fritz Bergmaier und die Aufseherinnen gingen straffrei aus. Ein deutsches Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen in Meuselwitz begangener Verbrechen blieb 1973 ergebnislos.

Räumung

Ende März 1945 ging die Produktion zurück und die Häftlinge mussten die Maschinen demontieren. Am 4. April 1945 brachte die SS 618 Frauen aus dem geräumten Außenlager in Sömmerda nach Meuselwitz. Neben den 330 Männern befanden sich nun 2.000 Frauen in den beiden Meuselwitzer Lagern der HASAG. Die Räumung durch die SS begann am 12. April. Direkt vom Gleisanschluss im Werk fuhren die Gefangenen in vollgestopften, offenen Güterwaggons in Richtung Chemnitz ab. Bei Most im heutigen Tschechien geriet der Zug in einen Fliegerangriff; es gab Tote und Verwundete. Einige flohen, doch die SS-Männer, die Aufseherinnen und sudetendeutsche Hitlerjugend trieben die Häftlinge wieder zusammen. Der folgende Fußmarsch im Bereich der tschechisch-deutschen Grenze forderte ungezählte Opfer. Eine der Marschgruppen wurde erst am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit.

Spuren und Gedenken

Nach Kriegsende demontierte die sowjetische Besatzungsmacht das HASAG-Werk. 1947 wurden die durch Kriegseinwirkung stark beschädigten Hallen gesprengt. Die Baracken des Lagers dienten zunächst als Umsiedlerlager und blieben fast sechs Jahrzehnte bewohnt. Während der Jahre der DDR gab es keinen Erinnerungsort für das Außenlager Meuselwitz. Erst 1996 fand eine erste Gedenkveranstaltung mit überlebenden Frauen statt. 2005 setzte die Stadt mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei einen Gedenkstein an der Zufahrtsstraße. 2009 ließ sie die von Bewohnern verlassenen, baufälligen Baracken abreißen und eine Baumpflanzung anlegen, in der sich seitdem ein Gedenkort befindet. Vom ehemaligen Außenlager existiert noch ein Pfeiler des Lagertors. Auf dem Friedhof Altenburg, wo die Toten des Außenlagers beerdigt worden sind, gibt es seit Oktober 2002 Gedenkstelen mit den Namen.

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Link zum Standort des Friedhofs in Altenburg auf GoogleMaps

Gedenkstein an der Kreuzung Altenburger Straße/Weinbergstraße in Meuselwitz, 2022. Foto: Katharina Brand
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Gedenkstein an der Kreuzung Altenburger Straße/Weinbergstraße in Meuselwitz, 2022. Foto: Katharina Brand ©Gedenkstätte Buchenwald
Gedenkstein an der Kreuzung Altenburger Straße/Weinbergstraße in Meuselwitz, 2022. Foto: Katharina Brand
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Gedenkstein an der Kreuzung Altenburger Straße/Weinbergstraße in Meuselwitz, 2022. Foto: Katharina Brand ©Gedenkstätte Buchenwald
Gedenkstätte Friedhof Altenburg, 2022. Foto: Katharina Brand
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Gedenkstätte Friedhof Altenburg, 2022. Foto: Katharina Brand ©Gedenkstätte Buchenwald
Gedenkstätte Friedhof Altenburg, 2022. Foto: Katharina Brand
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Gedenkstätte Friedhof Altenburg, 2022. Foto: Katharina Brand ©Gedenkstätte Buchenwald

Literatur:

Martin Schellenberg, Meuselwitz (Männer), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 526-529.


Miloš Pick, Dezember 1941
Miloš Pick, Dezember 1941 ©Memory of the Nations
„Immer, wenn wir zur Frühschicht antraten und am Lagereingang der Nachtschicht begegneten, merkten wir, wie sich die Kameraden nach der Nachtschicht buchstäblich auflösten, wie sie von Tag zu Tag dahinschwanden. Und sie konnten dasselbe an uns beobachten.“

Miloš Pick

Miloš Pick wurde am 16. August 1926 als Sohn einer jüdischen Familie in Libáň in der Tschechoslowakei geboren. Sein Vater besaß eine kleine Fabrik. Während des Krieges schloss er sich dem lokalen kommunistischen Widerstand an und verteilte Flugblätter. Seit Januar 1943 war er in Theresienstadt inhaftiert. Im September 1944 deportierte die SS ihn nach Auschwitz. Bei der dortigen Selektion machte er sich drei Jahre älter. Er überlebte. Einen Monat später kam er nach Meuselwitz. Auf dem Todesmarsch gelang ihm mit anderen Häftlingen die Flucht. Von seiner Familie überlebten nur er und seine Schwester. Nach dem Krieg studierte Miloš Pick Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitete für verschiedene staatliche Plankommissionen und als Publizist. Miloš Pick starb 2011.



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