Ellrich-Bürgergarten (SS-Baubrigade IV)

17. Mai 1944 – 28. Oktober 1944

Das Lager

Im Mai 1944 verlagerte die SS die bis dahin in Wuppertal stationierte SS-Baubrigade IV in die thüringische Kleinstadt Ellrich am Harz. Die Häftlinge brachte die SS in der Gaststätte „Bürgergarten“ am Schwanenteich an der heutigen Johann-Sebastian-Bach-Straße unter. Der „Bürgergarten“, in dem zuvor die Ortsgruppe der NSDAP ihre Versammlungen abgehalten hatte, bestand aus einer Gaststätte mit Tanzsaal und Bühne, einer Wohnung und einem großen Hof mit Bäumen. Die Häftlinge waren im früheren Tanzsaal des Hauptgebäudes untergebracht. Im Erdgeschoss der vorgelagerten Wohnung richtete die SS die Wach- und Schreibstube, Schneiderei, Schusterei und die Friseurstube ein. Im Obergeschoss befanden sich das Häftlingskrankenrevier und Unterkünfte für die Funktionshäftlinge. Den Hof nutzte die SS als Appellplatz. Das gesamte Areal, das bis zum Schwanenteich reichte und im Süden an die Stadtmauer grenzte, war mit Stacheldraht und hölzernen Wachtürmen mit Scheinwerfern gesichert. Das Eingangstor lag an der Nordwestecke des Geländes am Schwanenteich und bestand aus einem Holzverschlag. Ebenfalls im Mai 1944 richtete die SS am südlichen Stadtrand ein zweites, noch größeres KZ-Außenlager ein: Ellrich-Juliushütte.

Die Häftlinge

Die SS brachte im Mai 1944 über 530 Häftlinge aus Wuppertal nach Ellrich. Als politische Häftlinge eingestufte Männer aus der Sowjetunion und Polen bildeten die große Mehrheit unter ihnen, gefolgt von einigen Dutzend deutschen Häftlingen. Als Lagerältesten setzte die SS wie auch schon in Wuppertal den langjährigen politischen Häftling Hermann Eul aus Oberhausen ein. Am 6. Juni 1944 schickte die SS zusätzlich 300 französische Häftlinge aus Buchenwald nach Ellrich. Sie alle kamen erst Mitte Mai 1944 aus dem Durchgangslager Compiègne bei Paris nach Buchenwald und hatten die letzten Wochen im Kleinen Lager von Buchenwald zugebracht. Die meisten von ihnen waren wegen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer oder bei Razzien verhaftet worden und galten entsprechend als politische Häftlinge. Bis zur Übernahme durch das KZ Mittelbau Ende Oktober 1944 änderte sich an der Zahl der Häftlinge der Baubrigade IV nicht viel: Sie umfasste durchgängig über 800 Häftlinge. Ein Teil von ihnen war vermutlich seit Mitte Juli jedoch in Günzerode untergebracht, einem Unterlager des Außenlagers Ellrich-Bürgergarten.

„Ich muss zugeben, dass ich Angst hatte, als ich den Zug sah, der uns fortbringen sollte, weil ich an die letzte Fahrt dachte.“
Jean Soyeux
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Häftlinge der Baubrigade IV setzte die SS in erster Linie zu Bauarbeiten ein. Täglich wurden sie aus dem Lager „Bürgergarten“ zu den verschiedenen Arbeitsorten gebracht. Der Großteil der Häftlinge war für den Bau der sogenannten Helmetalbahn zuständig, einer neuen Eisenbahnlinie, die Nordhausen mit der kleinen Ortschaft Osterhagen verbinden sollte. Hierbei handelte es sich um körperlich schwere Bau- und Gleisarbeiten. Die meisten Häftlinge stufte die SS als ungelernte Hilfsarbeiter ein. Gearbeitet wurde zunächst an sechs Tagen die Woche bei einem arbeitsfreien Sonntag. Ab Juli 1944 gewährte die SS den Häftlingen nur noch zwei arbeitsfreie Sonntage pro Monat. Die übrigen Tage mussten alle Häftlinge durcharbeiten.

Krankheit und Tod

Das Lager verfügte über eine improvisierte Krankenstation, wo sich der polnische Häftlingsarzt Tadeusz Wozniak, ein Mediziner aus Krakau, um die Kranken kümmerte. Ob ihm weitere Ärzte oder Pfleger zur Seite standen, ist nicht bekannt. Schwerer erkrankte oder geschwächte Häftlinge ließ die SS nach Buchenwald und später in die Krankenstationen in die nahegelegenen größeren Außenlager Dora oder Ellrich-Juliushütte bringen. Grundsätzlich sollen in Ellrich-Bürgergarten den Berichten Überlebender zufolge bessere Bedingungen geherrscht haben als etwa im Lager Ellrich-Juliushütte. Ob es im Lager bis zur Übernahme durch das KZ Mittelbau Ende Oktober 1944 zu Todesfällen kam, ist nicht überliefert.

Bewachung

Eine Übersicht der in den Außenlagern des KZ Buchenwald eingesetzten Wachmannschaften verzeichnete Anfang September 1944 für das Lager Ellrich-Bürgergarten lediglich vier SS-Männer. Als Leiter der SS-Baubrigade IV und Kommandoführer vor Ort fungierte – wie auch schon in Wuppertal – SS-Untersturmführer Otto Diembt (geb. 1907). Ehemalige Häftlinge schilderten ihn nach dem Krieg als relativ menschlich im Umgang mit ihnen. Vermutlich waren neben den genannten SS-Männern Soldaten der Luftwaffe zur Bewachung des Lagers eingesetzt. Untergebracht war die Wachmannschaft des Lagers „Bürgergarten“ in einem Saal des Restaurants Burgberg am anderen Ende der Stadt.

Übernahme durch das KZ Mittelbau

Am 28. Oktober 1944 wurde das Außenlager Ellrich-Bürgergarten dem neu verselbstständigten Konzentrationslager Mittelbau zugeordnet. Fortan war es kein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald mehr. Zum Zeitpunkt der Übergabe des Lagers befanden sich 826 Häftlinge der Baubrigade IV im Lager Bürgergarten und dem Unterlager in Günzerode. Zunächst als Außenlager des Konzentrationslagers Mittelbau und ab Januar 1945 als Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen existierten die Lager Ellrich-Bürgergarten und Günzerode weiter bis zu ihrer Räumung im April 1945.

Spuren und Gedenken

Nach dem Krieg waren in den Gebäuden am „Bürgergarten“ zunächst sowjetische Soldaten untergebracht, die die nahegelegene Grenze zwischen der sowjetischen und britischen Besatzungszone bewachten. Ab 1947 diente das Gebäude wieder als Gaststätte, in dessen großem Saal später ein Kino und eine Diskothek eingerichtet wurden. Nach langem Leerstand erfolgte 1998 der Abriss der ehemaligen Gaststätte. Seit 2018 befindet sich auf dem ehemaligen Lagergelände ein Seniorenwohnheim. Der Verein „Jugend für Dora“ brachte 2021 am ehemaligen Lagerstandort an der Johann-Sebastian-Bach-Straße eine Informationstafel an.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Literatur:

Jens-Christian Wagner, Ellrich 1944/45. Konzentrationslager und Zwangsarbeit in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2009.


Jean Soyeux, 1946
Jean Soyeux, 1946 ©DAVCC Caen - AC 21 P 586676
„Ich muss zugeben, dass ich Angst hatte, als ich den Zug sah, der uns fortbringen sollte, weil ich an die letzte Fahrt dachte.“

Jean Soyeux

Jean Soyeux wurde am 11. Oktober 1917 im französischen Vaison-la-Romaine geboren. Er absolvierte eine Ausbildung als Polizist. Während des Krieges schloss er sich einer Widerstandsgruppe an. Die Gestapo verhaftete ihn im September 1943. Nach Monaten in den Gefängnissen von Nîmes und Marseille wurde er Mitte Mai 1944 aus dem Durchgangslager Compiègne bei Paris nach Buchenwald und kurz darauf nach Ellrich und später noch nach Günzerode deportiert. Als Beruf gab er bei seiner Ankunft in Buchenwald Landarbeiter an. Auf einem Todesmarsch gelang ihm im April 1945 die Flucht. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich gründete er eine Familie und schrieb seine Erinnerungen an die Zeit im Lager nieder. Jean Soyeux starb 1999 in Alès.



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