Halle (Saale)

1. August 1944 – 9. März 1945

Das Lager

Als größter Maschinenbaubetrieb in Halle an der Saale hatte die Siebel Flugzeugwerke GmbH während des Zweiten Weltkrieges drei Standorte mit rund 10.000 Arbeitskräften. Ein großer Teil von ihnen waren ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. 1944 bemühte sich die Firmenleitung zudem um den Einsatz von KZ-Häftlingen. Die ersten im August eintreffenden Häftlinge kamen zunächst in einer Halle auf dem Betriebsgelände unter. Gleichzeitig wurde ein Teil des bestehenden Barackenlagers Birkhahn zum KZ-Außenlager umfunktioniert. Es lag relativ abgelegen in der damaligen Boelckestraße 70 (heute Dessauer Straße) am Goldberg nordöstlich von Halle-Mötzlich. Es bestand aus sechs Unterkunftsbaracken mit Holzpritschen, einer Baracke für die SS-Wachmannschaft und einem Krankenrevier. Ein Zaun und Wachtürme sicherten das Häftlingslager. Zu ihrem Arbeitsort in den Siebel-Werken mussten die Häftlinge täglich drei bis vier Kilometer marschieren. Im Januar 1945 richtete die SS in Annaburg, 100 Kilometer östlich von Halle, ein zweites KZ-Außenlager für die Siebel-Werke ein, das eng mit dem Lager in Halle verbunden war.

„Wir schlafen im Bunker, wir arbeiten wenig. Wir schlafen mehr. Aber was für ein Gestank, es riecht wie in einem Tiergehege.“
Raymond Gonzalez
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Die Häftlinge

Mitte Juli 1944 schickten die Siebel-Werke einen Mitarbeiter nach Buchenwald, um mit der SS die Wünsche der Werksleitung zu besprechen. Benötigt wurden über 200 Schlosser und Feinschlosser sowie zusätzlich Klempner, Tischler, Elektriker, Schweißer und weitere handwerklich geschulte Männer. Gemäß der Absprachen stellte die SS einen Transport mit 525 Häftlingen zusammen. In der Nacht zum 1. August traf dieser per Bahn in Halle ein. Weitere Überstellungen aus Buchenwald folgten. Anfang September erreichte das Lager mit 1.021 Häftlingen seine Höchstbelegung. Die Männer waren zumeist politische Häftlinge zwischen 15 und 64 Jahren und kamen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Ab Mitte Oktober sank die Belegung des Lagers – zum einen durch Rückverlegungen nach Buchenwald, zum anderen durch Überstellungen in andere Außenlager. So brachte die SS Mitte November über 200 Häftlinge nach Langensalza. Anfang Januar 1945 ließen die Siebel-Werke 100 Häftlinge in das neue Zweigwerk in Annaburg verlegen. Kurz vor der Auflösung des Lagers im März 1945 befanden sich noch 539 Häftlinge in Halle. Belegt sind mindestens 21 Fluchtversuche. Mehr als die Hälfte von ihnen scheiterten.

Zwangsarbeit

Die Häftlinge in Halle wurden in der Fertigung von Flugzeugen des Junkers-Modells „Ju 88“ eingesetzt, das die Siebel-Werke mit Genehmigung der Junkers-Flugzeugwerke bauten. Der größte Teil der Häftlinge arbeitete in den Werkhallen 15, 16 und 22. Wie von der Werksleitung angefordert, waren es vor allem gelernte oder vor Ort angelernte Schlosser, Schmiede, Mechaniker, Tischler, Elektriker oder Dreher. Ein Prämiensystem sollte die Häftlinge motivieren. Bei guten Leistungen erhielten sie beispielsweise von der Werksleitung Zigaretten. Neben der Fertigung von Flugzeugteilen setzten die Siebel-Werke Häftlinge unter anderem zu Aufräumarbeiten nach Luftangriffen ein, so etwa nach einem Angriff auf das Werk Mitte August 1944. In den Werkhallen erfolgte der Einsatz der Häftlinge getrennt von den übrigen Zwangsarbeitern und unter der Aufsicht ziviler deutscher Meister. Die Regel waren zwölfstündige Tag- und Nachtschichten. Auch sonntags musste ein Teil der Häftlinge arbeiten. Vermutlich führten Zerstörungen am Werk Anfang 1945 zu einem Rückgang der Produktion und letztlich zur frühzeitigen Auflösung des Lagers.

Das Eingangstor der Siebel-Flugzeugwerke mit dem Firmenlogo, 1943/44
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Das Eingangstor der Siebel-Flugzeugwerke mit dem Firmenlogo, 1943/44 ©Universität Innsbruck, Archiv für Bau.Kunst.Geschichte, Nachlass Lois Welzenbacher, 20-2416-19 Flugzeugwerke Siebel, Halle an der Saale
Aufräumarbeiten nach einem Luftangriff auf das Werk, nach dem 16. August 1944. Vermutlich handelt es sich bei einigen Personen um KZ-Häftlinge.
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Aufräumarbeiten nach einem Luftangriff auf das Werk, nach dem 16. August 1944. Vermutlich handelt es sich bei einigen Personen um KZ-Häftlinge. ©Stadtarchiv Halle

Krankheit und Tod

Im Lager gab es eine Krankenbaracke mit einigen Pritschen. Als Häftlingsarzt setzte die SS den aus Schwedendorf bei Cherson in der Ukraine stammenden Mediziner Philipp Herrmann ein. Ein sowjetischer Häftling stand ihm als Pfleger zur Seite. Beaufsichtigt wurden sie von einem SS-Sanitäter namens Behrendt und dem Vertragsarzt Dr. Böhm. Durchschnittlich befanden sich zwischen 40 und 120 kranke Häftlinge im Lager. Wiederholt schickte die Lagerleitung Kranke und Schwache zurück nach Buchenwald. Laut SS-Dokumenten litten die meisten Kranken an Tuberkulose, Ruhr oder Knochenbrüchen, die sie sich bei der Arbeit zugezogen hatten. Acht Todesfälle sind für das Lager in Halle dokumentiert: Drei Männer starben bei einem Luftangriff und vier laut Angaben der SS an Lungenentzündung oder Herzschwäche. Den 23-jährigen Polen Eugeniusz Sleczek erhängte die SS im Oktober 1944 im Lager öffentlich. Er war geflohen und wiederergriffen worden. Die Toten des Luftangriffs ließ die SS im Krematorium in Buchenwald verbrennen. Für zwei Tote ist die Einäscherung im Krematorium in Halle belegt. Zwei Leichname sollen auf dem Gertraudenfriedhof in Halle beigesetzt worden sein.

Bewachung

Die Buchenwalder Lagerleitung setzte zunächst SS-Unterscharführer Johann Plicht (1914-1952) als Kommandoführer in Halle ein. 1942 war er aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig in den Buchenwalder Kommandanturstab versetzt worden. Er blieb zwei Monate in Halle und wechselte später als Kommandoführer in das Außenlager Kransberg. Auf ihn folgte im Oktober 1944 SS-Hauptscharführer Franz Noll (1905-1945). Ab Januar 1945 befehligte dieser zusätzlich das Außenlager der Siebel-Werke in Annaburg. Die Stärke der Wachmannschaft veränderte sich mit der Zahl der Häftlinge. Im November 1944 umfasste sie rund 60 SS-Männer und verkleinerte sich dann bis Ende Februar 1945 auf 41 Mann. Ermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg wegen Häftlingstötungen in Halle wurden 1975 ergebnislos eingestellt.

Räumung

Wegen des Rückgangs der Produktion von Flugzeugteilen wurden die Häftlinge schon ab Mitte Februar 1945 nicht mehr in Halle benötigt. Die SS verlegte sie einen Monat später in das Hauptlager Buchenwald. 539 Häftlinge kehrten in zwei Transporten am 9. und 10. März 1945 nach Buchenwald zurück.

Schreiben des Außenlagers in Halle an die Verwaltung des KZ Buchenwald, 10. März 1945. Es wurde über die Räumung des Lagers am gleichen Tag informiert. Nur einige SS-Männer blieben noch in Halle, um das Lager abzuwickeln.
Schreiben des Außenlagers in Halle an die Verwaltung des KZ Buchenwald, 10. März 1945. Es wurde über die Räumung des Lagers am gleichen Tag informiert. Nur einige SS-Männer blieben noch in Halle, um das Lager abzuwickeln. ©Arolsen Archives

Spuren und Gedenken

Spuren des Barackenlagers Birkhahn existieren heute nicht mehr. Nach dem Krieg wurden die Anlagen der Siebel-Werke demontiert und das Barackenlager abgerissen. Erst im Jahr 2009 ließ die Stadt einen Gedenkstein errichten. Es handelt sich um eine Denkmalskulptur des Bildhauers Bernd Kleffel aus Halle mit der Aufschrift „Den Opfern des KZ-Aussenlagers Buchenwald der Siebel-Flugzeugwerke Halle-Mötzlich August 1944 – März 1945“. 2022 brachte die Initiative KZ-Außenlager Halle einen Audiowalk zur Geschichte des KZ-Außenlagers Halle und der NS-Zwangsarbeit in den ehemaligen Siebel-Flugzeugwerken heraus.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenksteins auf GoogleMaps

Kontakt:
Zum Audiowalk zur Geschichte des Außenlagers
kontakt@audiowalk-kz-halle.de

 

Literatur:

Udo Grashoff (Hg.), Das vergessene Lager. Eine Dokumentation zum Außenkommando des KZ Buchenwald in Halle/Saale 1944/45, Halle 2010.


Raymond Gonzalez, um 1943
Raymond Gonzalez, um 1943 ©Coll. Musée de la Résistance et de la Déportation- Département de l’Isère. Jede vollständige oder teilweise Vervielfältigung, gleichgültig durch welches Verfahren, ohne die Zustimmung der Urheber ist verboten.

Raymond Gonzalez

Raymond Gonzalez wurde am 15. März 1923 in l’Isle d’Abeau in Frankreich geboren. Als Student der Universität Grenoble war er in der christlichen Widerstandsgruppe „Témoignage Chrétien“ aktiv. Er wurde verhaftet, als er am 11. November 1943 an einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs teilnahm. Am 17. Januar 1944 deportierte ihn die Gestapo ins KZ Buchenwald. Von August 1944 bis Januar 1945 musste er im Außenlager in Halle und später in Annaburg für die Siebel AG arbeiten. Nach der Befreiung in Buchenwald kehrte er schwer krank nach Grenoble zurück. Raymond Gonzalez starb im Juli 1945 mit nur 22 Jahren an Tuberkulose. In seinem Nachlass fanden seine Eltern das Tagebuch, das ihr Sohn während seiner Haft heimlich geführt hatte.



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