Holzen

14. September 1944 – 5. April 1945

Das Lager

Unter dem Tarnnamen „Hecht“ entstand ab Frühjahr 1944 in dem im niedersächsischen Bergland gelegenen Höhenzug Hils ein Rüstungskomplex. Vorhandene Asphaltgruben sollten zu unterirdischen Industrieanlagen ausgebaut werden, u. a. für die Volkswagenwerk GmbH. Rund 10.000 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, Kriegs- und Strafgefangene wurden für die Errichtung der Infrastruktur und der Produktionsstätten eingesetzt, ab Mitte September 1944 auch Häftlinge aus dem KZ Buchenwald. Untergebracht waren sie an zwei Standorten in der Gemeinde Holzen bei Eschershausen. Anfänglich diente ein umzäuntes ehemaliges Zeltlager der Hitlerjugend als provisorische Unterkunft – mit desolaten hygienischen Verhältnissen in den Zelten. Vermutlich im November 1944 bezogen die Häftlinge ein neues Barackenlager am nordöstlichen Dorfrand, neben einer Försterei gelegen. Berichten zufolge war es mit elektrisch geladenem Stacheldraht und Wachtürmen gesichert und umfasste vier Häftlingsbaracken mit teils abgetrennten Bereichen für das Krankenrevier, eine Küche und ein Latrinengebäude. In der Buchenwalder SS-Verwaltung trug das Lager den Namen „SS-Kommando Hecht, Eschershausen“.

Die Häftlinge

Am 14. September 1944 verließ ein Transport mit 250 Häftlingen Buchenwald in Richtung Holzen. Ein weiterer folgte am 21. November mit 253 Männern. Der Großteil von ihnen stammte aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion. Hinzu kamen Deutsche, Italiener, Tschechoslowaken, Belgier und Kroaten. Anfänglich setzte die SS eine Gruppe deutscher Häftlinge als Funktionshäftlinge ein. Nach und nach gelang es jedoch polnischen Häftlingen, die wichtigsten Posten im Lager zu übernehmen: So fungierte Zenon Różański (geb. 1914) als Lagerältester, Henryk Bartoszewicz (geb. 1908) leitete den Lagerschutz, Czesław Ostańkowicz (1910-1982) wurde als einer der Blockältesten und Kazimierz Tymiński (1915-1989) als Kapo in einem Arbeitskommando eingesetzt. Die meisten von ihnen waren langjährige politische Häftlinge des KZ Auschwitz und 1943/44 nach Buchenwald gebracht worden. Als die SS Anfang März 1945 weitere 612 Häftlinge aus Buchenwald nach Holzen schickte, erreichte die Belegung des Lagers mit über 1.100 Männern ihren Höchststand. Hierbei handelte es sich mehrheitlich um polnische und ungarische Juden aus den geräumten Konzentrationslagern Auschwitz und Groß-Rosen.

„Unser Hügel war ein Ausflugsziel für die Eingeborenen des Landes geworden, die sich mit ihrer Familie ein sonntägliches Vergnügen gönnten ... Wir machten auf sie den Eindruck von Zoo-Tieren.“
Armand Roux
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Zwangsarbeit

Die Bauleitung für das gesamte Untertageverlagerungsprojekt „Hecht“ lag bei der Organisation Todt (OT). Sie setzte die Häftlinge zu Straßen- und Tiefbauarbeiten, das Verlegen von Eisenbahnschienen und Stromleitungen, den Bau von Baracken oder Holzfällarbeiten ein. Einige Häftlinge mussten zudem in einem Steinbruch und beim Ausbau der unterirdischen Produktionsanlagen arbeiten. Der Großteil der Häftlinge galt als ungelernte Hilfsarbeiter, für welche die OT jeweils vier Reichsmark pro Arbeitstag an die SS zahlte. Gearbeitet wurde von 7 bis 17 Uhr, unterbrochen von einer halbstündigen Pause. Für die Monate Oktober und November 1944 ist kein einziger arbeitsfreier Tag belegt. Im Februar 1945 ließ die SS in Buchenwald Musterungen von Metallfacharbeitern durchführen. Die ausgewählten 612 Häftlinge, die sie nach Holzen brachte, sollten in den nun fertiggestellten unterirdischen Anlagen unter der Tarnbezeichnung „Stein“ für das Volkswagenwerk Flugzeugtragflächen herstellen. Eine Fertigung in größerem Umfang kam jedoch nicht mehr zustande.

Amerikanische Soldaten in einer der unterirdischen Produktionsanlagen, 9. April 1945
Amerikanische Soldaten in einer der unterirdischen Produktionsanlagen, 9. April 1945.
Foto: John E. Freeney (U.S. Army Signal Corps) ©National Archives at College Park, Maryland

Krankheit und Tod

Die Krankenstation des Lagers bestand anfänglich aus drei Zelten: zwei für die Kranken und eines für die ambulante Behandlung. Als Häftlingsarzt setzte die SS den Franzosen Armand Roux, einen Mediziner aus Latillé, ein; einen weiteren vermutlich im März 1945. SS-Oberscharführer Johann Krischer, auch für das Außenlager Bad Gandersheim zuständig, führte als SS-Sanitäter die Aufsicht. Nach dem Bezug des Barackenlagers blieb der Krankenstand sehr hoch. Am 29. November 1944 waren von 498 Häftlingen 43 wegen Krankheit nicht arbeitsfähig. Schwerer erkrankte Häftlinge brachte die SS im Tausch gegen andere in das Hauptlager Buchenwald. Als erster Tote des Außenlagers Holzen wurde der 23-jährige Kraftfahrer Louis Jaqua aus Paris registriert. Er starb am 22. Oktober 1944 im Evangelischen Krankenhaus in Holzminden an den Folgen eines geplatzten Darmgeschwürs. Bis Ende März 1945 meldete die Lagerleitung aus Holzen insgesamt 31 Tote nach Buchenwald. Die Leichname ließ sie auf dem Gemeindefriedhof Holzen erdbestatten. Die meisten Häftlinge starben laut den Angaben der SS an Lungenkrankheiten oder Herz-Kreislauf-Versagen im Winter 1944/45. Zwei Häftlinge erschoss die SS bei Fluchtversuchen.

Bewachung

Mit der Zunahme der Zahl der Häftlinge vergrößerte die SS auch die Wachmannschaft. Anfänglich bestand sie aus 25 SS-Männern, im Dezember umfasste sie bereits 45 und im März 1945 schließlich 107 SS-Männer. Berichten zufolge bildeten ältere, zur SS versetzte Wehrmachtssoldaten den Großteil der Wachmannschaft. An der Spitze stand ein SS-Scharführer namens Alois Gemeinhardt, der in den Erinnerungen von Überlebenden kaum Erwähnung findet. Gefürchtet für seine Brutalität und Unberechenbarkeit hingegen wurde der SS-Obersturmbannführer Willy Busch (1904-1956) – als sogenannter Abwehrbeauftragter Hauptverantwortlicher für den gesamten Rüstungskomplex „Hecht“. Sein Quartier befand sich in unmittelbarer Nähe des Barackenlagers in der Försterei. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hildesheim gegen Busch wegen Misshandlungen und der Ermordung eines russischen Häftlings im Außenlager Holzen wurden 1965 eingestellt, da der Beschuldigte verstorben war. Strafrechtliche Verurteilungen wegen Verbrechen in Holzen sind nicht bekannt.

Räumung

Am 29. März 1945 befanden sich 1.094 Häftlinge im Außenlager Holzen. Zwei Tage später wurden 694 von ihnen per Zug vom Bahnhof Eschershausen nach Buchenwald gebracht, wo sie am 3. April eintrafen. Vier Männer überlebten den Transport nicht. Vermutlich schickte die SS den Großteil der Ankommenden kurz darauf weiter mit Todesmärschen oder Räumungstransporten in Richtung anderer Konzentrationslager. Am 5. April wurde das Lager Holzen endgültig geräumt, wenige Tage vor dem Eintreffen der US-Armee. Über Salzgitter, wo Männer und Frauen zweier Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme den Transport vergrößerten, ging es nach Celle. Am dortigen Güterbahnhof geriet der Zug am 8. April in einen amerikanischen Luftangriff. Mehrere hundert Häftlinge starben, weitere mindestens 170 Flüchtige ermordeten SS, Wehrmacht und Zivilisten bei einer anschließenden Hetzjagd. Die Überlebenden wurden zu Fuß in das nahe KZ Bergen-Belsen getrieben. Wie viele Menschen aus dem Außenlager Holzen bei der Räumung zu Tode kamen, lässt sich nicht mehr ermitteln.

Spuren und Gedenken

Die auf dem Gemeindefriedhof in Holzen beigesetzten Toten wurden 1946 exhumiert, von Angehörigen in die Heimatländer überführt oder auf einem Ehrenfriedhof etwa zwei Kilometer außerhalb des Dorfes in einem Wald bestattet – wie später auch die Opfer der Todesmärsche aus dem KZ Mittelbau-Dora, die entlang der Routen der Märsche exhumiert worden waren. Heute ist der „Ehrenfriedhof“ der zentrale Gedenkort an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Landkreis Holzminden. Zwei Geschichts- und Erinnerungstafeln informieren über die Geschehnisse. An den beiden ehemaligen Lagerstandorten erinnert heute nichts mehr an die Existenz des Außenlagers Holzen.

Link zum heutigen Standort des Zeltlagers auf GoogleMaps
Link zum heutigen Standort des Barackenlagers auf GoogleMaps
Link zum Standort des Ehrenfriedhofes in Holzen auf GoogleMaps

Literatur

Detlef Creydt u. August Meyer, Zwangsarbeit für die „Wunderwaffen“ in Südniedersachsen, Band 1, Braunschweig 1993.

Detlef Creydt, Zwangsarbeit für Industrie und Rüstung im Hils 1943-1945, Band 4, Holzminden 2001.

Hans Mommsen u. Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.

Jens Christian Wagner (Hg.), Wiederentdeckt. Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen. Begleitband zur Wanderausstellung, Göttingen 2013.


Armand Roux. Zeichnung von Camille Delétang, 17. Januar 1945
Armand Roux. Zeichnung von Camille Delétang, 17. Januar 1945 ©KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
„Unser Hügel war ein Ausflugsziel für die Eingeborenen des Landes geworden, die sich mit ihrer Familie ein sonntägliches Vergnügen gönnten ... Wir machten auf sie den Eindruck von Zoo-Tieren.“

Armand Roux

Armand Roux wurde am 1. Februar 1886 im französischen Thouarcé geboren. Der Mediziner war seit 1929 Bürgermeister der Landgemeinde Latillé (Département Vienne). Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch schloss er sich der Résistance an. Unter anderem half er Flüchtlingen und versteckte abgeworfene Waffen und Güter. Anfang 1944 verraten, verhaftet und im April nach Auschwitz deportiert, überstellte ihn die SS im Mai nach Buchenwald und im September in das Außenlager Holzen. Dort war er als Häftlingsarzt eingesetzt. Die Befreiung erlebte er im April 1945 in Bergen-Belsen. Nach der Rückkehr nach Frankreich arbeitete er wieder als Arzt und Bürgermeister. 1949 schrieb er seine Erinnerungen für seine Familie auf. Armand Roux starb 1960 in Latillé.



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