Kortemark (SS-Baubrigade I)

28. Juli 1944 – 2. September 1944

Das Lager

Nach der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie beschloss die SS-Führung, die auf der Kanalinsel Alderney stationierte SS-Baubrigade I auf das Festland zu verlegen. Auf Schiffen und in Güterzügen erreichten die Häftlinge nach einer rund vierwöchigen Odyssee den neuen Standort der Baubrigade in Belgien. Das Hauptlager richtete die SS in der flämischen Gemeinde Kortemark und ein weiteres, kleineres Lager im rund 40 Kilometer entfernten Proven ein. Untergebracht waren die Häftlinge in Kortemark rund zwei Kilometer nördlich des Zentrums im Ortsteil Markhove in den Gebäuden einer Schule, die hierfür mit Stacheldraht gesichert wurden. Ein angrenzendes Herrenhaus in der heutigen Ichtegemstraat 96 nutzten die SS-Führer der Baubrigade. Die verlagerte SS-Baubrigade I, die bis zu diesem Zeitpunkt dem Konzentrationslager Neuengamme unterstanden hatte, gehörte ab dem 5. August 1944 offiziell zum Konzentrationslager Buchenwald.

Die Häftlinge

Rund 570 Häftlinge der SS-Baubrigade I trafen Ende Juli 1944 in Flandern ein. Etwa 350 von ihnen blieben Berichten zufolge in Kortemark. Die übrigen brachte die SS in Proven unter. Der Großteil der Häftlinge der Baubrigade stammte aus der Sowjetunion und trug den roten Winkel der politischen Häftlinge. Eine zweite größere Gruppe bildeten circa 50 überwiegend deutsche Männer, die als Zeugen Jehovas verfolgt worden waren. Hinzu kamen politische Häftlinge aus Polen, der Tschechoslowakei, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden und weitere deutsche Männer, die als Politische, „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ in das Konzentrationslager eingewiesen wurden. In Kortemark und Proven boten sich für die Häftlinge aufgrund der Unterstützung durch die einheimische belgische Bevölkerung viele Möglichkeiten zur Flucht. Es sind zwar keine genauen Zahlen dokumentiert, Überlebende berichten jedoch von einer großen Anzahl Geflohener.

„Darüber hinaus erhielten wir Hilfe vom Belgischen Roten Kreuz. Wir hatten Lebensmittel in Hülle und Fülle und spürten, wie unsere Kräfte zunahmen, und der Gedanke an Flucht verfolgte uns immer wieder.“
Gommert Krijger
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Häftlinge wurden zum Bau von Abschussbasen für die Flugbombe Fieseler (Fi) 103, die sogenannte Vergeltungswaffe 1 („V1“), eingesetzt. Weitere Details hierzu liegen nicht vor.

Krankheit und Tod

Dr. Gommert Krijger, ein niederländischer Arzt aus Noordwijk, kümmerte sich in der Krankenstation des Lagers als Häftlingsarzt zusammen mit dem polnischen Pfleger Jan Woitas um die Kranken. Details über die Krankenversorgung liegen jedoch nicht vor. Während der rund einmonatigen Existenz des Lagers starben mindestens sieben Häftlinge – die Ukrainer Sergej Bondar, Sergej Maslij und der Belarusse Grigorij Alessenko im August 1944 an den Folgen von Tuberkulose; bei Fluchtversuchen erschoss die SS im Juli 1944 den Polen Wladislaw Lubecki und kurz vor der Räumung Anfang September drei weitere Häftlinge. Ihre Leichname wurden auf dem Gemeindefriedhof in Kortemark beerdigt.

Bewachung

Wie bereits auf Alderney fungierte der gelernte Vermessungstechniker SS-Obersturmführer Georg Braun (geb. 1911) nach der Verlagerung auf das belgische Festland als Führer der SS-Baubrigade I und somit auch als Kommandoführer des Lagers in Kortemark. SS-Hauptscharführer Otto Högelow (geb. 1895) kommandierte die Wachmannschaft der Baubrigade und SS-Oberscharführer Kurt Wittwer (geb. 1912) war als Arbeitsdienstführer der Brigade eingesetzt. Über die Größe der Wachmannschaft in Kortemark liegen bisher keine Informationen vor. Strafrechtliche Verurteilungen wegen der Geschehnisse in Kortemark hat es nicht gegeben. Ermittlungsverfahren gegen einige Angehörige der Wachmannschaft der SS-Baubrigade I wurden ergebnislos eingestellt.

Räumung

Am 2. September 1944 begann die Verlagerung der SS-Baubrigade I aus Kortemark und Proven. Am Tag zuvor war es 39 Häftlingen gelungen zu fliehen und in Kortemark unterzutauchen. Die beiden deutschen Häftlinge Josef Lammel und Rudolf Pusch sowie den Polen Stanislaw Mroz erschoss die SS an diesem Tag bei einem Fluchtversuch. Die verbliebenen Häftlinge brachte die SS per Bahn in Richtung Westen. Erst nach sechs Tagen erreichte der Zug die deutsche Grenze. Nach weiteren vier Tagen kam die Baubrigade mit 441 Häftlingen an ihrem neuen Einsatzort im thüringischen Rehungen an.

Spuren und Gedenken

1987 wurde das zum Lager umfunktionierte Schulgebäude abgerissen. Das von der SS genutzte Herrenhaus steht heute noch. Vor Ort erinnert jedoch nichts an die Existenz des Lagers. Auf dem Gemeindefriedhof von Kortemark sind sieben in Kortemark gestorbene oder ermordete Häftlinge in einem Sammelgrab beigesetzt.

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Literatur:

Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn 2005.


Treffen von in Kortemark untergetauchten ehemaligen Häftlingen der SS-Baubrigade I mit Einwohnerinnen und Einwohnern der Gemeinde, vermutlich November 1944
Gommert Krijger (stehend, neunter von links mit Brille) mit Überlebenden der SS-Baubrigade I bei einem Treffen in Kortemark, November 1944. ©Westhoek verbeeldt, Private collection
„Darüber hinaus erhielten wir Hilfe vom Belgischen Roten Kreuz. Wir hatten Lebensmittel in Hülle und Fülle und spürten, wie unsere Kräfte zunahmen, und der Gedanke an Flucht verfolgte uns immer wieder.“

Gommert Krijger

Gommert Krijger wurde am 12. März 1905 im niederländischen Rilland-Bath geboren. Er arbeitete als Arzt in einem Pflegeheim für geistig behinderte Kinder und Erwachsene in Noordwijk. Weil er sich mit seinem Kollegen weigerte, Gegenstände aus Kupfer, Zinn, Blei und Nickel an die deutschen Besatzer abzugeben, wurde er 1942 verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert. Seit Oktober 1942 war er Häftlingsarzt in der SS-Baubrigade I mit unterschiedlichen Einsatzorten. Kurz vor der Räumung des Lagers in Kortemark gelang ihm die Flucht. Einheimische versteckten ihn bis zur Ankunft der Alliierten. Zusammen mit dem polnischen Überlebenden Jan Woitas schrieb er noch im gleichen Jahr einen ersten Bericht über seine Haftzeit und hielt Vorträge über seine Erfahrungen. Bis zu seinem frühen Tod mit nur 46 Jahren arbeitete er wieder als Arzt. Gommert Krijger hinterließ seine Frau und sechs Kinder.



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