Schlieben

14. August 1944 – 21. April 1945

Das Lager

Seit 1938 unterhielt der Leipziger Rüstungskonzern Hugo-Schneider AG (HASAG) einen Standort in der kleinen brandenburgischen Stadt Schlieben, 80 Kilometer nordwestlich von Leipzig. In einem Waldgebiet im Ortsteil Berga ließ das Unternehmen im Krieg die vorhandene Schießbahn zur Erprobung von Munition zu einem Produktionsstandort ausbauen. In dem neuen HASAG-Werk wurden Panzerfäuste und Munition produziert. Neben Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern setzte die HASAG in Schlieben seit Sommer 1944 KZ-Häftlinge ein. Nach einer Vorortbesichtigung zwischen Paul Budin, dem Generaldirektor der HASAG, und dem Buchenwalder Lagerkommandanten Hermann Pister entstand Mitte Juli 1944 zunächst ein Frauenaußenlager. Einen Monat später folgte ein Männerlager. Es lag auf dem HASAG-Gelände im Bereich der heutigen Straßen Birkenweg, Krassiger Straße und Straße der Arbeit und bestand aus einem Dutzend Baracken. Umgeben war es von einem elektrisch geladenen Zaun. Zu den Funktionsbauten zählten sanitäre Anlagen, eine Wäscherei, eine Küche und Unterkünfte für die Wachmannschaft.

Die Häftlinge

Am 14. August 1944 brachte die SS 1.381 Häftlinge aus Buchenwald nach Schlieben. Der weitaus größte Teil von ihnen waren jüdische Häftlinge aus Polen, die zuvor im Arbeitslager für Juden in Skarżysko-Kamienna für die HASAG hatten arbeiten müssen. Zwischen September und Ende 1944 trafen weitere Transporte mit jüdischen Häftlingen in Schlieben ein. Die meisten von ihnen waren erst kurz zuvor aus Lagern in Polen, aus Budapest und anderen Städten im damaligen Ungarn nach Buchenwald deportiert worden. Seine Höchstbelegung erreichte das Männerlager im Dezember 1944 mit 2.559 Häftlingen. Durch Tod, Rücküberstellungen ins Hauptlager und Verlegungen in andere HASAG-Lager wie Flößberg sank die Zahl der Häftlinge in Schlieben im Februar 1945 auf unter 1.500. Insgesamt durchliefen in den acht Monaten seiner Existenz über 3.000 Männer das Lager. Aufgrund der großen Zahl jüdischer Häftlinge zählte die Buchenwalder SS das Männerlager in Schlieben zu den „jüdischen Außenkommandos“. Die maßgeblichen Funktionsposten der Häftlingsverwaltung wurden jedoch mit nichtjüdischen, zumeist deutschen und polnischen Häftlingen besetzt.

„Zuerst färbte sich die Haut so gelb wie die Chemikalie, und dann fing man an zu husten. Schlieẞlich warst du zu krank, um weiter zu arbeiten – und du bist gestorben. Dann haben sie einen anderen Häftling an deine Stelle gesetzt.“
Marian Filar
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Zwangsarbeit

Die Männer arbeiteten im nahegelegenen HASAG-Werk, in dem Panzerfäuste und Munition produziert wurden. Zum einen eingesetzt in der sogenannten chemischen Abteilung führten sie lebensgefährliche und entsprechend gefürchtete Arbeiten durch. Ohne Schutzkleidung mussten die Männer dort Chemikalien mischen und flüssigen Sprengstoff kochen, bevor er in die Sprengköpfe der Panzerfäuste gefüllt wurde. Hierbei atmeten sie giftige Dämpfe ein, es kam zu Verbrennungen und die Haut färbte sich gelb. Zum anderen setzten die Männer in der Abteilung Fertigung im Akkord Panzerfäuste und Granaten zusammen. Die Arbeit im Werk erfolgte in 12-stündigen Tag- und Nachtschichten, ohne einen freien Tag. Mehrere Explosionen zerstörten in der Nacht zum 12. Oktober 1944 weite Teile des Werks und forderten viele Opfer unter den männlichen Häftlingen. Für die Wiederaufbauarbeiten schickte die Buchenwalder SS zusätzliche Arbeitskräfte nach Schlieben. Trotz der Zerstörungen lief die Waffenproduktion im Freien oder in Zelten weiter.

Krankheit und Tod

Die lebensgefährliche Arbeit, der Hunger und die grundsätzlich schlechten Lebensbedingungen im Lager führten zu einem durchweg hohen Krankenstand. Im März 1945 befanden sich durchschnittlich 100 Männer jeden Tag in stationärer oder ambulanter Behandlung. In der Krankenstation des Lagers kümmerten sich der belgische Häftlingsarzt Horace Leleux, der ungarische Zahnarzt Istvan Ban und einige Häftlingspfleger um die Kranken und Verletzten – mit sehr begrenzten Möglichkeiten. Seitens der SS waren die SS-Sanitäter Dreßler und Jacob sowie der Vertragsarzt Dr. Rudolf Papies, ein Allgemeinmediziner aus Schlieben, für die Krankenstation zuständig. Regelmäßig ließ die Lagerführung nicht mehr Arbeitsfähige zurück nach Buchenwald bringen. Der größte dieser Rücktransporte verließ Schlieben im Februar 1945 mit 201 Männern. Die Zahl der Toten vor Ort lag sehr hoch: Bis Anfang April 1945 wurden 204 Tote nach Buchenwald gemeldet. 96 von ihnen waren bei den Explosionen im Werk gestorben, die Übrigen an den Folgen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Die SS ließ die Leichname auf dem Gelände der HASAG begraben.

Bewachung

Für das Frauen- und Männerlager in Schlieben war dieselbe Wachmannschaft zuständig. Im März 1945 bestand sie aus 114 SS-Männern und neun SS-Aufseherinnen. Letztere kontrollierten und bewachten nur im Frauenlager. Als Kommandoführer setzte die Buchenwalder SS SS-Untersturmführer (später Obersturmführer) Kurt Kempe (geb. 1913) ein. Seit 1940 gehörte er zum Kommandanturstab des KZ Buchenwald. Nach Stationen bei der SS-Baubrigade III in Köln und im Außenlager Ellrich-Juliushütte führte er das Kommando in Schlieben.
Ein 1966 in der Bundesrepublik eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen Kempe wurde 1975 ergebnislos eingestellt. Ein amerikanisches Militärgericht verurteilte 1947 Adam Ankenbrand, einen der SS-Wachmänner, wegen Verbrechen im Außenlager Schlieben und auf dem Todesmarsch aus Schlieben zum Tode. Die Hinrichtung erfolgte im Jahr darauf.

Räumung

Über die Räumung des Lagers existieren verschiedene Aussagen. Um den 9. April 1945 begann die SS, das Männerlager etappenweise zu räumen. Die meisten Häftlinge brachte sie mit zwei Bahntransporten in Richtung Theresienstadt. Der erste Zug fuhr durch Leipzig und Dresden während der andere Transport Bautzen passierte. 200 Häftlinge mussten dort den Zug verlassen, um im dortigen Außenlager des KZ Groß-Rosen zu arbeiten. Von da aus trieb die SS sie später zu Fuß weiter. Die Überlebenden wurden im Mai bei Nixdorf, dem heutigen Mikulášovice in Tschechien, befreit. Einige Männer und Frauen blieben in den beiden Lagern in Schlieben zurück. Angehörige der Roten Armee befreiten sie dort am 21. April 1945.

Spuren und Gedenken

Nach dem Krieg erfolgte die Umbettung der Toten in ein Sammelgrab auf dem Friedhof am Langen Berg in Schlieben. 1952 wurde dort ein Denkmal errichtet. In den Häftlingsunterkünften waren nach dem Krieg Flüchtlinge und deutsche Vertriebene untergebracht. Im Werk ließ die Rote Armee noch einige Wochen Panzerfäuste produzieren, bis die sowjetische Militäradministration das Werk demontierte. Später nutzten die NVA und Bundeswehr das Gelände. In den erhalten gebliebenen Baracken des Frauenlagers befinden sich heute Wohnungen. Darüber hinaus sind vor Ort heute noch zahlreiche bauliche Relikte des HASAG-Werks vorhanden.
Seit 2009 widmet sich der „Verein Gedenkstätte KZ-Außenlager Schlieben-Berga e.V.“ der Aufarbeitung der Lagergeschichte. So konnte 2011 im früheren Empfangs- und Verwaltungsgebäude der HASAG eine Dauerausstellung eröffnet werden. Auf dem Gelände informieren Tafeln über die Geschichte des Ortes. Seit 2016 erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der Lager. 2022 wurde er durch die Namen der in Schlieben verstorbenen KZ-Häftlinge ergänzt.

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Link zum Standort der Gedenkstätte Schlieben auf GoogleMaps
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Kontakt:
Verein Gedenkstätte KZ-Außenlager Schlieben-Berga e. V.

Denkmal für die Opfer des Faschismus auf dem Schliebener Friedhof, 2023
Denkmal für die Opfer des Faschismus auf dem Schliebener Friedhof, 2023 ©Verein Gedenkstätte KZ-Außenlager Schlieben-Berga e.V.

Literatur:

Broschüre Verein Gedenkstätte KZ-Außenlager Schlieben-Berga e.V., Das vergessene Lager… unvergessen! KZ-Außenlager Schlieben, Kommando Hasag, Schlieben 2001.

Martin Schellenberg, Schlieben (Männer), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 563-566.


Marian Filar nach der Befreiung in Nixdorf, Mai 1945
Marian Filar nach der Befreiung in Nixdorf, Mai 1945 ©Foto mit freundlicher Genehmigung von Charles Birnbaum
„Zuerst färbte sich die Haut so gelb wie die Chemikalie, und dann fing man an zu husten. Schlieẞlich warst du zu krank, um weiter zu arbeiten – und du bist gestorben. Dann haben sie einen anderen Häftling an deine Stelle gesetzt.“

Marian Filar

Marian Filar wurde am 17. Dezember 1917 in Warschau als jüngstes von sieben Kindern in eine jüdische Familie geboren. Trotz des Krieges schloss der begabte Pianist sein Musikstudium Ende 1941 am Konservatorium in Lemberg ab. Aus dem Ghetto in Warschau deportierte die SS ihn im Mai 1943 in das KZ Lublin-Majdanek und von dort in das Arbeitslager der HASAG in Skarżysko-Kamienna. Über das KZ Buchenwald kam er im August 1944 nach Schlieben. Nach einem Todesmarsch erlebte er im Mai 1945 in Nixdorf (heute Mikulášovice) die Befreiung. Als Konzertpianist trat Marian Filar in ganz Westeuropa auf, bevor er 1950 in die USA emigrierte. Dort setzte er seine Karriere fort. Marian Filar starb 2012 mit 94 Jahren in Pennsylvania.



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