Duderstadt (Frauen)

4. November 1944 – 5. April 1945

Das Lager

Das Magdeburger Rüstungsunternehmen Polte-Werke OHG ließ ab Herbst 1939 ein Zweigwerk in Duderstadt im heutigen Niedersachsen, 25 Kilometer östlich von Göttingen gelegen, errichten. In der Fabrik mussten von Beginn an ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter arbeiten. In seinem Stammwerk in Magdeburg setzte die Firmenleitung seit Juni 1944 bereits weibliche und später auch männliche KZ-Häftlinge ein. Auch für das Werk in Duderstadt forderte das Unternehmen 1944 weibliche Häftlinge von der SS an. Im November 1944 richtete die Werksleitung hierfür an der heutigen Kreuzung Max-Näder-Straße/Am Euzenberg, wenige hundert Meter von den Polte-Werken entfernt, ein neues KZ-Außenlager ein. Das Barackenlager lag auf dem Gelände der Möbel- und Polsterfabrik Steinhoff, das für die Polte-Werke beschlagnahmt worden war. Zuvor wurde es bereits für die Unterbringung von Zwangsarbeitenden genutzt. Als Unterkünfte dienten zwei Holzbaracken von je 12,5 x 42,5 Metern, ausgestattet mit Pritschen, Strohsäcken und Decken. Daneben befand sich eine kleine Waschbaracke. Gesichert war das Lager mit einem Zaun. Die Unterbringung der zur Bewachung des Lagers eingeteilten SS-Männer und der SS-Aufseherinnen erfolgte in einem Steingebäude neben dem Barackenlager.

Häftlinge

Der erste und einzige große Transport mit 750 weiblichen jüdischen Häftlingen traf am 4. November 1944 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in Duderstadt ein. Überlebende berichteten später, dass eine Delegation der Polte-Werksleitung die Frauen in Bergen-Belsen eigens für den Einsatz in Duderstadt ausgesucht hatte. Die Frauen und Mädchen kamen fast ausschließlich aus Ungarn und den seit 1940 zu Ungarn angrenzenden Regionen. Aus ihrer Heimat mit ihren Familien im Frühjahr und Frühsommer 1944 nach Auschwitz deportiert, überlebten sie die dortigen Selektionen als arbeitsfähig und waren nach Bergen-Belsen gebracht worden. Drei Jüdinnen stammten aus Polen und der Tschechoslowakei und wurden vor Ort von der SS als Ärztinnen und als Lagerschreiberin eingesetzt. Das Durchschnittsalter der Frauen lag bei 26 Jahren – die Jüngsten mit 13 Jahren: Rozsi Langsam aus Galanta in der heutigen Slowakei und Livia Oroszlan aus dem ungarischen Gyarmat. Die Belegung des Lagers blieb bis zum Ende seiner Existenz stabil. Lediglich Ende Januar 1945 brachte die SS fünf weitere Frauen aus Bergen-Belsen nach Duderstadt. In der Buchenwalder Lagerverwaltung zählte das Frauenlager in Duderstadt zu den „jüdischen Außenkommandos“.

„Wir arbeiteten bis zu 12 Stunden täglich. Auch sonntags, auch am Sabbat, was für mich als gläubiger Jüdin einem Frevel gleichkam.“
Rachel Hanan
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Zwangsarbeit

Das Polte-Werk in Duderstadt produzierte Fliegermunition. In 12-stündigen Tag- und Nachtschichten – arbeitsfreie Tage gab es nicht – waren die Frauen zumeist in Halle 17 des Werks in der Hülsenproduktion eingesetzt, getrennt von den zivilen deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen. Angeleitet von Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion, die schon länger für die Polte-Werke arbeiten mussten, hielten sie sich Berichten zufolge meist ohne Bewachung in der Fabrik auf. Die Aufgaben in der Hülsenproduktion waren sehr kleinteilig: Einige Frauen mussten Maschinen bedienen, um Löcher in die Hülsen zu stanzen, andere kontrollierten die Hülsen am Fließband und korrigierten gegebenenfalls die Löcher mit Nadeln. Eine weitere, gefährliche Arbeit galt das Reinigen der Hülsen mit Säuren und Chemikalien. Von Zeit zu Zeit arbeiteten die Frauen auch in anderen Werkshallen Seite an Seite mit deutschen Zivilisten.

Krankheit und Tod

Die jüdische Ärztin Ryfka Saposhnikow aus dem polnischen Kalisz setzte die SS als Häftlingsärztin ein. Ihre Tochter Alina unterstützte sie als Krankenpflegerin. Ein SS-Sanitäter, ein SS-Sturmmann namens Stimpl sowie Dr. August Otto aus Duderstadt, der als Vertragsarzt für das Lager fungierte, beaufsichtigten sie. Zwischen November 1944 und März 1945 befanden sich täglich durchschnittlich 20 bis 30 kranke Häftlinge in der Krankenstation des Lagers. Im März 1945 kamen zusätzlich täglich über 80 ambulante Behandlungen hinzu. Die häufigsten Erkrankungen waren Grippe und Abszesse. Es gab mindestens zwei schwangere Frauen im Lager. Die erste, Klara Gruber, brachte am 22. Januar 1945 in Duderstadt einen Jungen zur Welt, der zwei Tage später für tot erklärt wurde. Die zweite, Magda Fischer, ließ die SS am 26. Januar 1945 nach Bergen-Belsen zurückbringen; sie gebar einen Tag später einen Jungen namens Laszlo. Das weitere Schicksal der beiden Frauen und des Kindes ist nicht bekannt. Im Außenlager Duderstadt starben vier Frauen. Als Todesursache stehen in den Haftunterlagen in drei Fällen Lungenentzündung und in einem Fall Herzschwäche. Nach Aussage eines ehemaligen SS-Wachmanns aus dem Jahr 1949 wurden die Frauen auf dem jüdischen Friedhof in Duderstadt begraben. Weitere Belege dazu gibt es nicht.

Bewachung

Das Außenlager stand zunächst unter der Leitung des SS-Oberscharführers Arno Reißig (1914-2004). Er trat 1934 in die SS ein und war von 1938 bis 1942 im KZ Buchenwald tätig, unter anderem als Blockführer. Als Angehöriger des sogenannten Kommandos 99 beteiligte er sich in Buchenwald an der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener. 1942 wechselte Reißig in das KZ Arbeitsdorf, 1944 als Kommandoführer in das Außenlager Duderstadt und von dort in das Außenlager Westeregeln. Ihm folgte 1945 vorübergehend ein nicht näher identifizierter SS-Unterscharführer namens Hübner. Bis zur Auflösung des Lagers fungierte dann SS-Unterscharführer Eduard Jansen (geb. 1909) als Kommandoführer in Duderstadt. Die Bewachung bestand aus 14 bis 16 SS-Männern und 10 bis 18 SS-Aufseherinnen. Die Aufseherinnen waren Arbeiterinnen der Polte-Werke und hatten vor ihrem Einsatz eine kurze Ausbildung im KZ Ravensbrück erhalten. Sechs ehemalige Aufseherinnen mussten 1963 in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Göttingen aussagen, das später ergebnislos eingestellt wurde.

Räumung

Am 5. April 1945 brachte die SS die Frauen mit Bussen nach Seesen, 70 Kilometer nördlich von Duderstadt. Dort zwang die SS die Frauen, in Eisenbahnwaggons zu steigen, die sie nach Theresienstadt bringen sollten. Fast drei Wochen waren die Frauen unterwegs. Der Zug fuhr über Magdeburg und Dessau und machte einen ersten mehrtägigen Halt in Wolfen. Einige Frauen nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Die anderen fuhren bis ins tschechoslowakische Lovosice, wenige Kilometer von Theresienstadt entfernt. Nach einem Luftangriff mussten die Frauen den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Während des Transports gab es viele Verletzte und Tote, die genauen Zahlen schwanken in den Quellen zwischen sieben und 28 Toten. Am 26. und 27. April 1945 sollen 719 Häftlinge aus Duderstadt in Theresienstadt angekommen sein, wo die Rote Armee sie am 8. Mai 1945 befreite.

Spuren und Gedenken

Nach dem Krieg wurden die Polte-Werke demontiert und einzelne Gebäude gesprengt – nur wenige sind heute noch erhalten; eine der beiden Baracken des Lagers blieb bis 2008 stehen. Seit 1984 erinnert das Mahnmal „Die Geknechtete“ neben dem städtischen Ehrenmal in der Obertorstraße an die Frauen des KZ-Außenlagers Duderstadt. 1988 wurde daneben eine Gedenktafel mit Inschrift angebracht. Vor dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers ließ die Stadt 1994 einen Gedenkstein aufstellen. Die Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V. setzt sich für die Erforschung und Erinnerung an das KZ-Außenlager Duderstadt ein. Auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof in Duderstadt errichtete sie 2008 einen Gedenkstein, der an die im Außenlager Duderstadt verstorbenen Frauen erinnert.

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Link zum Standort des jüdischen Friedhofs auf GoogleMaps

Kontakt:
Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V.

Denkmal „Die Geknechtete“ neben dem städtischen Ehrenmal in der Obertorstraße mit einer Gedenktafel, 2024. Foto: Günther Siedbürger
Denkmal „Die Geknechtete“ neben dem städtischen Ehrenmal in der Obertorstraße mit einer Gedenktafel, 2024. Foto: Günther Siedbürger ©Ausstellung: „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“

Literatur:

Gudrun Pischke, Duderstadt (Frauen), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen und Buchenwald, München 2006, S. 422-424.

Götz Hütt, Das Außenkommando des KZ Buchenwald in Duderstadt. Ungarische Jüdinnen im Rüstungsbetrieb Polte, Norderstedt 2005.

Götz Hütt (Hg.), „Jede Minute, die wir noch leben, ist von Nutzen“. Lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Häftlingen des KZ-Außenlagers Duderstadt, Norderstedt 2011.


Rachel (links) mit ihren Schwestern Ester (rechts) und Sarah, die ebenfalls nach Duderstadt verschleppt wurden, in Budapest, Winter 1945/46.
Rachel (links) mit ihren Schwestern Ester (rechts) und Sarah, die ebenfalls nach Duderstadt verschleppt wurden, in Budapest, Winter 1945/46. ©Privatbesitz Rachel Hanan
„Wir arbeiteten bis zu 12 Stunden täglich. Auch sonntags, auch am Sabbat, was für mich als gläubiger Jüdin einem Frevel gleichkam.“

Rachel Hanan

Rachel Hanan wurde am 16. Mai 1929 als fünftes von neun Kindern der jüdischen Familie Cahana in dem rumänischen Dorf Vișeu de Jos geboren. Seit 1940 gehörte der Wohnort der Familie zu Ungarn. Die deutschen Besatzer deportierten Rachel mit ihrer Familie im Mai 1944 nach Auschwitz. Dort sah sie ihre Eltern und ihre beiden jüngsten Brüder zum letzten Mal. Rachel und drei ihrer Schwestern überlebten die Selektion in Auschwitz. Zur Zwangsarbeit brachte die SS sie im September 1944 in das KZ Bergen-Belsen und von dort nach Duderstadt. Die Befreiung erlebten die Schwestern im Mai 1945 in Theresienstadt. Die Schwestern kamen zunächst bei einem Onkel in Budapest unter. Im Juni 1947 wanderte Rachel nach Palästina aus und kämpfte für die Gründung Israels. Sie heiratete 1950 und bekam zwei Söhne. Rachel Hanan lebt heute in Haifa, Israel.



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