Raguhn (Frauen)

7. Februar 1945 – 9. April 1945

Das Lager

Anfang Februar 1945 richtete die Heerbrandt-Werke AG in Raguhn, zwölf Kilometer östlich von Dessau, ein KZ-Außenlager ein, das lediglich rund zwei Monate bestehen sollte. Es war eine der letzten Außenlagergründungen des Konzentrationslagers Buchenwald. Die weiblichen Häftlinge, die Raguhn im Februar 1945 erreichten, brachte das Unternehmen in zwei bereits bestehenden Baracken auf dem Gelände von Werk III unter – sie lagen am westlichen Stadtrand an der heutigen Halleschen Straße, Höhe Bobbauer Straße. Die zuvor für ausländische Zwangsarbeitende genutzten Unterkünfte wurden vor Ankunft der Häftlinge mit Stacheldraht umzäunt. Die Arbeiten fanden an drei unterschiedlichen Werksstandorten statt. Die meisten der Frauen mussten täglich zwei Kilometer quer durch die Stadt Raguhn zum sogenannten Werk I am Ufer der Mulde gehen.

Die Häftlinge

Im Dezember 1944 reisten zwei Vertreter der Heerbrandt AG in das Konzentrationslager Bergen-Belsen, um vor Ort 500 weibliche Häftlinge für den Einsatz in ihren Werken auszuwählen. Am 7. Februar 1945 erreichten die Frauen, größtenteils jüdische Häftlinge aus unterschiedlichen europäischen Ländern, schließlich Raguhn. Die Jüngste unter ihnen war die erst 14-jährige Schülerin Stella Benun aus Rhodos, die die Lagerverwaltung als italienische Jüdin führte. Die meisten Frauen hatten bereits verschiedene Lager durchlaufen, bevor sie nach Raguhn kamen – entkräftet und in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand. Am 18. Februar wurden fünf weitere Frauen aus Bergen-Belsen nach Raguhn gebracht. Vor Ort setzte die SS sie als Ärztinnen und Pflegepersonal ein. Insgesamt durchliefen somit 505 Frauen das Außenlager.

„Es stimmt, dass wir etwas Unglaubliches geschafft hatten, und wir waren stolz darauf.“
Charlotte Schapira
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Zwangsarbeit

Die Heerbrandt-Werke AG fungierte im Krieg als Zulieferer für die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke. Schon vor dem Eintreffen der KZ-Häftlinge nutzte das Unternehmen Zwangsarbeitende und Kriegsgefangene. Die Frauen aus Bergen-Belsen fertigten in den Werken I, II und III – die an unterschiedlichen Orten in Raguhn lagen – Teile für den Flugzeugbau an. In der Regel befand sich nur die Hälfte der Häftlinge in den Werken, die anderen waren entweder krank oder blieben im Lager. Die Gründe hierfür sind unklar, Materialmangel könnte eine Erklärung sein. Rund ein Dutzend Frauen arbeitete in der Lagerküche. Es gab unterschiedliche Schichten von über zehn Stunden. Ein kleiner Teil der Häftlinge musste auch nachts in den Werken II und III tätig sein. Der Sonntag galt für den Großteil als arbeitsfrei, da an diesen Tagen lediglich einige wenige Frauen eingesetzt waren.

Krankheit und Tod

Für die Krankenversorgung brachte die SS am 18. Februar 1945 die ungarische Häftlingsärztin Margit Heuduska, die Zahnärztin Ibolya Glück und drei Pflegerinnen aus Bergen-Belsen nach Raguhn. Eine eigene Krankenstation gab es nicht, die Kranken mussten in ihren Unterkünften bleiben. Im März 1945 waren durchschnittlich bis zu 70 Frauen wegen Krankheit arbeitsunfähig. Da sie nicht isoliert werden konnten, breiteten sich ansteckende Krankheiten schnell aus. Bis zur Räumung des Lagers sind acht Todesfälle dokumentiert. Die meisten Frauen starben an Körperschwäche, belegt sind jedoch auch einzelne Typhusfälle. Die Toten wurden auf dem Friedhof in Raguhn beerdigt.

Schreiben des Kommandoführers Dieckmann des Außenlagers Raguhn an die Kommandantur des KZ Buchenwald mit der Bitte die tags zuvor gestorbene Französin Ginette Salomon aus der Liste der Häftlinge in Raguhn zu streichen, 1. März 1945.
Schreiben des Kommandoführers Dieckmann des Außenlagers Raguhn an die Kommandantur des KZ Buchenwald mit der Bitte die tags zuvor gestorbene Französin Ginette Salomon aus der Liste der Häftlinge in Raguhn zu streichen, 1. März 1945. ©Arolsen Archives

Bewachung

Die Bewachung in Raguhn bestand aus 25 SS-Männern und 20 SS-Aufseherinnen. Als Kommandoführer setzte die SS Oberscharführer Alfred Dieckmann (geb. 1890) ein. Ab Ende März 1945 kommandierte Obersturmführer Hermann Großmann (1901-1948) für kurze Zeit das Frauenaußenlager Raguhn. Zuvor war er Kommandant des Außenlagers Wernigerode und später des Bochumer Vereins. Ein 1966 in der Bundesrepublik eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen Dieckmann wurde 1970 ergebnislos eingestellt. Andere Ermittlungen für den Tatort Raguhn gab es nicht.

Räumung

Am 13. April 1945 verließen die Häftlinge mit dem Ziel Theresienstadt in Viehwaggons Raguhn. Während der zehntägigen Fahrt bekamen die Frauen kaum zu essen und litten unter den schlechten hygienischen Bedingungen. Überlebende berichten von einer hohen Zahl an Toten. Am 20. April 1945 kamen lediglich 429 Frauen in Theresienstadt an. Trotz sofortiger medizinischer Betreuung starben mindestens 15 weitere Frauen kurz nach der Ankunft.

Spuren und Gedenken

Am ehemaligen Lagerstandort gibt es heute keine baulichen Spuren mehr. Auf dem Friedhof in Raguhn erinnert seit 1948 ein Gedenkstein an einzelne dort beerdigte Tote des Außenlagers. Einige der sterblichen Überreste wurden später aus Raguhn in die Heimatländer der Frauen überführt.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps
Link zum Standort des Gedenktafel auf GoogleMaps


„Es stimmt, dass wir etwas Unglaubliches geschafft hatten, und wir waren stolz darauf.“

Charlotte Schapira

Charlotte Schapira Lewin wurde am 15. Januar 1926 als Charlotte Lewin in Paris geboren. Ihre Eltern stammten ursprünglich aus Polen und emigrierten 1924 nach Frankreich. Bei einer Razzia im Juli 1942 wurden Charlotte und ihre Familie verhaftet und später nach Auschwitz deportiert. Charlotte, die im Juli 1944 nach Auschwitz kam, überlebte die Selektion und gelangte über Bergen-Belsen nach Raguhn. Nach der Befreiung kehrte sie nach Frankreich zurück und gründete eine Familie. Charlotte Schapira, wie sie seit ihrer Heirat hieß, setzte sich bis zu ihrem Tod im Jahre 2016 unermüdlich für die Erinnerung an die Shoah ein.



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