Wernigerode

25. März 1943 – 22. Dezember 1944

Das Lager

Die Rautal-Werke GmbH fertigte in ihrem Werk in Wernigerode am Nordrand des Harzes seit 1935 Gehäuse für die deutsche Rüstungsindustrie. Am Veckenstedter Weg 23 am nordwestlichen Stadtrand errichtete das Unternehmen bereits 1941 in unmittelbarer Nähe zum Werk ein Barackenlager. In ihm wurden zunächst Zwangsarbeitende aus Westeuropa untergebracht. Am südlichen Rand des Werksgeländes entstanden in der Folge weitere Barackenlager. Das Lager am Veckenstedter Weg 23 ließ die Firmenleitung im Frühjahr 1943 zu einem KZ-Außenlager mit einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, zusätzlichen Baracken und Wachtürmen umbauen. Fertig ausgebaut umfasste das Lager sechs Unterkunftsbaracken mit Zentralheizung und eine Küchenbaracke. Die ab März 1943 eintreffenden Häftlinge schliefen in Doppelstockbetten. Die Unterkunft für die Wachmannschaft befand sich außerhalb des Lagerzaunes, unmittelbar neben dem Lager. Die Buchenwalder SS führte das neue Außenlager bei der Rautal-Werke GmbH unter dem Tarnnamen „Richard“.

Die Häftlinge

Die ersten 95 Häftlinge trafen am Abend des 25. März 1943 aus Buchenwald in Wernigerode ein. Durch weitere Überstellungen aus dem Hauptlager wuchs die Lagerbelegung schrittweise an. Ende Dezember 1943 befanden sich 786 Häftlinge vor Ort. Die als politisch Kategorisierten bildeten die Mehrheit, gefolgt von Häftlingen mit dem schwarzen Winkel, mit denen die SS sie als „asozial“ gekennzeichnet hatte. Die überwiegende Mehrheit der Männer stammte aus Polen und der Sowjetunion, aus Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Die übrigen kamen aus Frankreich, Belgien und dem damaligen Deutschen Reich. Unter ihnen befanden sich vereinzelt auch Sinti und Roma. Die Lagerführung ließ regelmäßig kranke Häftlinge austauschen. Hierdurch blieb die Belegung des Lagers bis Dezember 1944 relativ konstant bei rund 800 Häftlingen. Als Lagerältesten setzte die SS den deutschen politischen Häftling Kurt Wabbel ein. Nach seinem Tode wurde er durch Hugo Launicke, ebenfalls politischer Häftling, ersetzt. Mindestens 16 Fluchten und Fluchtversuche sind für das Außenlager „Richard“ belegt.

„Jede Woche, manchmal zweimal in der Woche, manchmal alle zwei Wochen, mussten Transporte von Männern, die zusammengebrochen waren, nach Buchenwald geschickt werden, und wir sahen diese Männer nie wieder.“
Andreas Pfaffenberger
Zum Erinnerungsbericht

Zwangsarbeit

Die Ende März 1943 eintreffenden Häftlinge mussten zunächst das Barackenlager zu einem KZ-Außenlager um- und ausbauen. Danach leisteten sie vor allem in der Produktion der Rautal-Werke Zwangsarbeit. Hierbei handelte es sich um eine Leichtmetallgießerei mit Spezialisierung auf die Herstellung von Zylinder- und Motorengehäusen für Flugzeug-, Fahrzeug- und Bootsmotoren. Die Häftlinge wurden in den verschiedenen Abteilungen der Gießerei eingesetzt: in der Gießerei selbst, in der sogenannten Entkernerei, der Putzerei und in der Kontroll- und Versandhalle. Rund die Hälfte von ihnen waren gelernte oder angelernte Gussfacharbeiter. Außerhalb der Produktion ließ die Werksleitung die Häftlinge zeitweise beim Bau eines Stollensystems und bei Transporttätigkeiten arbeiten. Die Arbeit im Werk und der Umgang mit den schweren Gussteilen waren körperlich sehr anstrengend. Belegt sind eine große Zahl von arbeitsbedingten Verletzungen und Arbeitsunfällen. Gemeinsam mit Zivil- und Zwangsarbeitern arbeiteten die Häftlinge im Werk in zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten – nach bisherigem Kenntnisstand blieb der Sonntag arbeitsfrei.

Krankheit und Tod

Im Außenlager existierte eine Krankenstation, wo wechselnde Häftlingsärzte und -pfleger die Kranken und Verletzten versorgten. Die Medikamente stellte das Hauptlager Buchenwald zur Verfügung. Seitens der SS beaufsichtigte ein Sanitäter die Krankenstation. Ärzte und Ärztinnen des nahegelegenen Lebensborn-Heimes der SS fungierten als Vertragsärzte für das Außenlager. Im Juli 1944 befanden sich im Tagesdurchschnitt 42 Häftlinge in ambulanter und sechs Häftlinge in stationärer Behandlung. Die Lagerführung schickte regelmäßig Schwerkranke zurück nach Buchenwald. Belegt sind zudem Behandlungen im örtlichen Krankenhaus. Mindestens zwölf Todesfälle sind für das Außenlager dokumentiert: Am 24. Oktober 1943 ließ die SS sechs Männer vor den Augen ihrer Mitgefangenen hinrichten. Man hatte ihnen vorgeworfen, einen Aufstand geplant zu haben. Für die übrigen Todesfälle gab die SS zumeist Herz- oder Lungenkrankheiten als Todesursachen an. Zwei Häftlinge, darunter der erste Lagerälteste Kurt Wabbel, starben unter nicht geklärten Umständen. Die SS ließ die Toten im Krematorium in Quedlinburg einäschern.

Bewachung

Die Wachmannschaft in Wernigerode bestand durchschnittlich aus 70 SS-Männern. Berichten zufolge waren zumindest ab 1944 ein Teil von ihnen ehemalige Luftwaffensoldaten, die von der Wehrmacht zur SS überstellt wurden. Die Buchenwalder SS setzte SS-Obersturmführer Hermann Großmann (1901-1948), seit 1939 Teil der Wachmannschaft des KZ Buchenwald, als Kommandoführer ein. Ab Juni 1944 führte er das Kommando im Außenlager Bochum und ab März 1945 im Frauenaußenlager in Raguhn. Auf ihn folgte im Juni 1944 ein nicht näher identifizierter SS-Hauptscharführer Hantke. Bei ihm scheint es sich um einen von der Wehrmacht zur SS überstellten Oberfeldwebel gehandelt zu haben.
Ein amerikanisches Militärgericht in Dachau verurteilte Großmann 1947 wegen Verbrechen in Bochum und Wernigerode zum Tode. Er wurde hingerichtet. Weitere Ermittlungen zum Außenlager Wernigerode blieben in den 1970er-Jahren ergebnislos.

Räumung

Im Dezember reduzierte die SS schrittweise die Belegung des Lagers und ließ die Häftlinge in das Außenlager in Schönebeck oder zurück nach Buchenwald bringen. Ende Dezember 1944 befanden sich noch rund 500 Häftlinge vor Ort im Lager der Rautal-Werke. Sie wurden gemeinsam mit einem Teil der Wachmannschaft unter dem Kommando von SS-Hauptscharführer Hantke dem neu eingerichteten Außenlager in Hasserode, nur wenige Kilometer entfernt, zugewiesen.

Spuren und Gedenken

Nach Kriegsende wurden die Rautal-Werke demontiert und ab 1947 das Elektromotorenwerk Wernigerode errichtet. Die Gebäude des Außenlagers dienten nach dem Krieg zunächst als Auffanglager für Displaced Persons und ab 1953 als Altersheim. Seit 1974 steht auf dem Gelände des ehemaligen Lagers eine Bronzeskulptur als Mahnmal. Ein Jahr später entstand dort auf Initiative ehemaliger Häftlinge die Mahn- und Gedenkstätte Wernigerode am Veckenstedter Weg. Die Gedenkstätte befindet sich in einer der noch erhaltenen Baracken, die übrigen wurden abgerissen.

Link zum heutigen Standort auf GoogleMaps

Kontakt:
Mahn- und Gedenkstätte Wernigerode

Literatur:

Mark Homann, Jenseits des Mythos. Die Geschichte(n) des Buchenwald-Außenkommandos Wernigerode und seiner „Roten Kapos“, Berlin 2020.

Franziska Jahn, Wernigerode („Richard“), in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 606-609.


Andreas Pfaffenberger (sitzend, links) als Zeuge der Anklage im Buchenwald-Prozess vor einem amerikanischen Militärgericht in Dachau, 6. Mai 1947. Foto: Dean L. Dennis (U.S. Army Signal Corps)
Andreas Pfaffenberger (sitzend, links) als Zeuge der Anklage im Buchenwald-Prozess vor einem amerikanischen Militärgericht in Dachau, 6. Mai 1947. Foto: Dean L. Dennis (U.S. Army Signal Corps) ©National Archives at College Park, Maryland
„Jede Woche, manchmal zweimal in der Woche, manchmal alle zwei Wochen, mussten Transporte von Männern, die zusammengebrochen waren, nach Buchenwald geschickt werden, und wir sahen diese Männer nie wieder.“

Andreas Pfaffenberger

Andreas Pfaffenberger kam am 17. September 1901 im oberfränkischen Enchenreuth zur Welt. Er war in der SPD aktiv und wurde nach 1933 wiederholt inhaftiert. Im November 1938 wies die Gestapo in Nürnberg ihn in das KZ Buchenwald ein. Dort trug er den schwarzen Winkel der als „asozial“ kategorisierten Häftlinge. Ab August 1943 musste er im Außenlager in Wernigerode arbeiten. Im Juni 1944 wurde er zur Wehrmacht entlassen. Bei Aachen geriet er im November 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Einen Monat später gehörte er zu den Ersten, die amerikanischen Ermittlern von den Verbrechen im KZ Buchenwald berichteten. Im amerikanischen Buchenwald-Prozess in Dachau sagte Andreas Pfaffenberger 1947 unter anderem als Zeuge gegen Hermann Großmann aus.



Read more